von: Gert Krell, Hofheim (Deutschland)
13. Januar 2021

Der Unterschied zwischen Kritik am heutigen Staat Israel und Antisemitismus

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Gert Krell zu den Kontroversen über BDS (Boykott – Desinvestition – Sanktionen gegen Israel bis zum Ende von Apartheid und Besatzung in Palästina).
Gastbeiträge müssen nicht die Meinung der Redaktion teilen, sondern zur konstruktiven Debatte beitragen.

© Metropol Verlag

Ein Grund für die Heftigkeit der Kontroversen über BDS, Antisemitismus und Israel liegt in der mangelnden Klarheit über grundlegende Sachverhalte. Israel ist ein weithin anerkannter Staat und hat als solcher wie alle anderen ein selbstverständliches Recht darauf, in Sicherheit zu leben. Israel ist aber auch besonderer Staat, denn er ist aus einem Zufluchtsort für diskri­minierte oder verfolgte Juden und für Überlebende des Holocaust entstanden bzw. dazu ge­worden, und außerdem ein Staat, der aus einem Siedlungskolonialismus hervorgegangen ist und der bislang nicht erkennen lässt, ob und wann er sein Kolonisationsprojekt abschließen will. Aus diesen drei Sachverhalten ergeben sich nicht nur Polarisierungen in der Debatte, in der der dritte Punkte häufig unterschlagen wird, sondern auch objektiv widersprüchliche Kon­sequenzen oder Anforderungen. Eine mögliche Konsequenz aus diesen Widersprüchen wäre, die Legitimität des Anspruchs der jüdischen Nationalbewegung auf einen eigenen Staat auf die Grenzen von 1949 zu beschränken – immer noch eine ernst zu nehmende Position, auch wenn sie unrealistisch geworden ist.

Unabhängig von allen berechtigten Einwänden bleibt der Vergleich des BDS-Boykotts mit dem Boykott der Nazis analytisch unseriös. Bei BDS geht es nicht um eine Kampagne, nicht bei Juden zu kaufen, sondern um eine Kampagne gegen die Politik des Staates Israel gegen­über den Palästinensern. Der Vergleich ist letztlich sogar demagogisch, weil er den hoch be­waffneten Staat Israel, der wiederholt gezeigt hat, dass er sich zu wehren weiß, mit einer im Verhältnis zur herrschenden Mehrheitsgesellschaft kleinen, unbewaffneten, völlig unschuldi­gen, politisch kaum noch handlungsfähigen, also alles in allem wehrlosen Gruppe von Juden in Deutschland gleichsetzt, die gegen die immer gewaltsamere Ausgrenzung durch eine dikta­torische Gewaltherrschaft unterstützt von breiten Massen der Bevölkerung nicht den Hauch einer Chance hatte.

Auch das Argument, die Anerkennung eines Rückkehrrechts für die palästinensischen Flücht­linge komme einer Verneinung des Existenzrechts Israels gleich, ist fragwürdig. So hat die palästinensische Seite in allen großen Nahost-Friedensverhandlungen auf der Anerkennung dieses Rechts bestanden, das im Übrigen bis heute durch UN-Resolutionen gedeckt ist. Die konkrete Umsetzung dieser Forderung wäre immer Gegenstand von Verhandlungen, wozu es bislang nur in allerersten Ansätzen gekommen ist. Auch BDS postuliert keineswegs, dass die einzig mögliche Umsetzung des Rückkehrrechts durch die tatsächliche Rückkehr aller Flücht­linge erfolgen müsste.

Die heute allgemein übliche breite Definition von Antisemitismus, die die Infragestellung des Staates Israel einbezieht, ist einmal deshalb fragwürdig, weil sie keine klare Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus zieht. Kenneth S. Stern, einer der Mitbegründer der brei­ten Definition, hält heute diese Ausweitung für einen großen Fehler, weil sie – so seine eige­nen Erfahrungen an den amerikanischen Universitäten – zur Vergiftung der Debatte führe. Eine Konsequenz aus der breiten Definition, so Stern selbstkritisch, wäre z.B., dass man dann auch die Verneinung des Existenzrechts eines palästinensischen Staates – immerhin die Posit­ion maßgeblicher israelischer Regierungsparteien – ähnlich charakterisieren müsste, also z.B. als antimuslimischen Rassismus. Historisch war die Mehrheit der Juden keineswegs zionis­tisch, viele waren sogar entschiedene Gegner des Zionismus, ohne deshalb Antisemiten zu sein. Auch nach der Staatsgründung blieben große Teile der jüdischen Orthodoxie antizionis­tisch. Gewiss sind viele Gegner des Staates Israel auch Antisemiten, aber keineswegs alle. Andererseits finden sich auch unter vielen Befürwortern Israels Antisemiten. Es empfiehlt sich also, und wieder sowohl aus analytischen als auch aus politisch-praktischen Gründen, sorgfältiger zwischen antisemitischen und anti-israelischen Einstellungen zu unterscheiden.

 

Prof. Dr. Gert Krell, Hofheim

Dieser Beitrag erschien zuerst als Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.


 

Die Redaktion:

Für alle, die an diesen Fragen dran bleiben möchten, sei diese weiterführende Lektüre empfohlen: „Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen“, herausgegeben von Wolfgang Benz im Metropol Verlag.

Link: Was ist eigentlich BDS?