von: Martin Kunz
7. Mai 2017
© Urs Heinz Aerni
Am Sonntagmorgen gehe ich gerne ins Museum, meist in eine Halle für neue Kunst. Oder ich gehe in ein Konzert. Andere schlafen vielleicht noch oder brunchen mit Freunden oder mit ihren Kindern, machen sich auf zum Joggen oder nehmen an freikirchlichen Veranstaltungen teil. Schon in meiner Kindheit war das so: Mein Vater besuchte mit mir Kunstausstellungen, meist zeit-genössische, wenn wir den Besuch des Gottesdienstes für einmal ausfallen liessen. Er rang mit der modernen Kunst, vieles verwarf er, aber sie zog ihn immer wieder an. Einer, den er nicht verwarf, war Giorgio Morandi. Er – und ich – wir bewunderten die Intensität der Zurückhaltung, mit der seine Stilleben gemalt sind, diese Dinge des Alltags, die sich dem Betrachter entziehen und sich ihm zugleich zärtlich annähern. Meine Mutter war übrigens nie mit dabei, wenn es um bildende Kunst ging. Sie zweifelte daran, dass Gott Freude haben kann am menschlichen Nachäffen der Werke des Schöpfers.
Der Schöpfer ruhte bekanntlich am siebten Tag und feierte von all seiner Arbeit, die er machte. Was macht er eigentlich seither? Feiert er den ewigen Sonntag, nach dem wir uns ja irgendwie sehnen? Der Sonntag, der für die bürgerlich tätige Bevölkerung noch zweideutiger ist als für jene Privilegierten, die das Glück haben, dass für sie Arbeit und Erfüllung listig sich verschränken – der Sonntag lässt aufscheinen, was sein könnte. Er lässt aber unbefriedigt, weil sein eigenes Versprechen unmittelbar zugleich als unerfülltes sich darstellt, wie Adorno in den Minima Moraliaschreibt.Gerade deshalb konnten uns einst kirchliche Stunden des Innehaltens, ihre Rituale darüber hinwegtrösten, dass nichts ist, wie es sein könnte. Noch nicht. Gerade deshalb gibt es überhaupt Kunst, die grosse Rivalin der Religion, die im Schein stimmungsvoll in Ordnung bringt, was in der Wirklichkeit nicht stimmt, oder umgekehrt, unserer Erkenntnis dienend, gekonnt noch mehr entstellt, was in der Welt ungekonnt falsch gestellt ist. Das gilt wohl auch von der Musik. Sie erinnert, dient unseren Sehnsüchten und unserer brüchigen Hoffnung. Kunst ist Feier, die sich der Abgründe allen Feierns bewusst ist. Der Schlager, der Herz auf Schmerz reimt, trifft da nicht weniger Existentielles als etwa Beethovens Neunte, die mich am Schluss freundschaftlich umschlingt, aber genau deshalb auch Skepsis weckt.
Schon als Jugendlichen hat mich in den Gottesdiensten das Orgelspiel oder der Gesang professioneller Chöre mehr ergriffen als die Predigt. Den Gemeindegesang und das Abendmahl, dem in seiner reformierten Gestalt gerade abgeht, was es ist, nämlich ein Mysterium, fand ich eher peinlich.
Deshalb also eher ins Museum gehen, in diesen andern Sonntagsraum, Tempel, abgegrenzten Deutungsbezirk?
Ja, aber im Bewusstsein, dass die hier eingesperrte Kunst als Entsperrung geschaffen worden ist. Kunst hat ihre Aufhebung im Sinn: Würde sie Lebenskunst, nicht nur als subjektiv richtige Gestaltung im objektiv Falschen, hätte jeder Tag etwas vom siebenten Tag. Wäre die düstere Tränenschnur, die sich um den Nacken der Welt legt, gelöst (Else Lasker-Schüler), würde sie sich erübrigen. Soweit wird es nie kommen, obwohl Kunst wie auch Philosophie die Dinge zu betrachten hätten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten (Adorno).
Darf man heute noch ein solches Verständnis von Kunst und Philosophie haben?
Künstlerisch und philosophisch gelungen wäre dann das, was durch alles hindurch ein auratisches Woher und Wozu aufleuchten lässt, eine nostalgie du dimanche, die irritiert, tröstet und beflügelt in einem.
Jemand hat kritisch angemerkt, sich heute noch „Philosoph“ zu nennen, sei ein Anachronismus. Gilt das vielleicht auch von der Bezeichnung „Künstler“? Kürzlich habe ich eine junge Frau, die eigenschöpferisch tätig ist, gefragt, ob sie sich überhaupt noch Künstlerin nenne. Sie sagte: Ja, weil Künstlerin oder Philosophin zu sein eine Lebensform ist. Das ist Wasser auf meine Mühle.
Trotz Morschholz
Fehlguss
Gallimathias
Bleibt feucht und quick
Seid ernst und lacht
Geniesst die Gunst der Stunde
in einer Runde ohne Zwang
und ohne Haschen nach Getue
Als Netz die Kunst
Als Utopie die Freundschaft
ohne falsche Maschen
Heute Nachmittag treffe ich ein paar Freundinnen und Freunde. Was uns verbindet, ist wahrscheinlich trotz allem so etwas wie ein kritischer Lebenskunstglaube. Wir haben vor, in aller Musse aufeinander einzugehen, in Schönheit zu streiten, zu genießen und zu lachen und so in sonntäglicher Sorglosigkeit Ansätze von Freiheit zu erfahren. Falls es gelingen wird, erfüllt sich vielleicht, was eine chinesische Volksweisheit meint: Einen Tag ungestört in Muße zu verleben heißt, einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein.
Martin Kunz