von: Wolfgang Marx
28. Dezember 2020

DER SCHLAF DER VERNUNFT

Ein Beitrag von Wolfgang Marx.

© Bern - Foto von Regine Frei (Kriminal-Schrifstellerin in Bern)

 

Bei uns zu Hause wurde nicht gebetet, nicht bei Tisch und nicht vorm Bett. Man ging auch nicht zur Kirche. Gott war kein Thema, er kam allenfalls beiläufig zur Sprache, am ehesten in Nebensätzen. Das ist insofern bemerkenswert, als mein Vater eine Evangelische Versandbuchhandlung betrieb und regelmäßig Postsäcke voll mit frommen Büchern bei uns abgeholt wurden. Er hat sich, jedenfalls mir gegenüber, nie dazu geäußert, wie er es mit dem lieben Gott halte, dafür wusste er über dessen Bodenpersonal umso mehr zu sagen – meistens wenig Vorteilhaftes. Mit einem Wort: Er mochte keine Pfaffen und Bibelforscher mochte er überhaupt nicht. Es genügte, ihn dieses Wort nur aussprechen zu hören, dann wusste man eigentlich schon alles. Wie auch immer seine Beziehung zu ihm genau gewesen sein mag, Gott war Teil seines Geschäftsmodells, nicht seiner Lebenspraxis.

Nun war dieser Herr sowieso kein Thema in den Jahren der Britischen Besatzungszone und schon gar nicht in diesen zwei Reihen von Behelfsheimen (so schöne Wörter wusste die Nazi-Bürokratie) an einer kleinen, unbefestigten Straße am Rande der bewohnbaren Welt. Dahinter war nur noch das Moor. Da gab es Kreuzottern und gelegentlich wurde beim Torfstechen eine Moorleiche gefunden. Ein Ort, wo sich ein kleiner Junge besser nicht aufhalten sollte. Nein, die Leute dort hatten andere Sorgen; und der Weg zur Kirche war weit, viel weiter als der zum Lebensmittelhändler und zum Milchmann.

Wann ich also in meiner Kindheit zum ersten Mal vom (damals wahrscheinlich noch „lieben“) Gott erfuhr, das verliert sich im Dunkel des vielen nicht mehr Gewussten. Da taucht keiner von diesen merkwürdig markanten Erinnerungsfetzen auf, die sich aus jenen frühen Jahren gelegentlich einstellen mögen, Miniaturen, in denen meine Mutter vorkommt, mein Vater, die Schwester, Nachbarskinder, ein junger Hund und sogar ein Hausschwein namens Fritz, mit dem es ein blutiges Ende nahm. Es wurde quiekend und schreiend aus unserem Schuppen herausgezogen; und was dann kam, das wollte ich gar nicht wissen, sehen schon gar nicht, das Hören blieb mir allerdings nicht erspart, nicht einmal unter der Bettdecke. – Aber Gott? Da war nichts mit Gott.

Was ich jedoch weiß, ist, dass mein Verhältnis zu ihm, wie und wann es auch begonnen haben mag, von allem Anfang an ein angespanntes war, bestimmt von einem sich immer einmal wieder zu Angst steigernden Unbehagen, in das sich gelegentlich, das war dann schon später, auch Zweifel mischten, wie an der Sache mit dem Weihnachtsmann oder dem Osterhasen, den mein Vater schon gesehen zu haben behauptete. Nun ja, er war zwar ein begnadeter Erzähler von Witzen und Anekdoten, aber ein begabter Lügner war er nicht.

Das bedingungslose Grundvertrauen, das ich für meine Eltern empfand, konnte ich nicht auf einen Vater im Himmel übertragen. Nie habe ich mich in Gedanken an ihn jemals behütet und aufgehoben gefühlt, er war mir einfach nicht ganz geheuer; und die Geschichten, die von ihm erzählt wurden, machten die Sache nicht besser, im Gegenteil, dass er Abraham dazu zwang, seinem Sohn die Kehle durchzuschneiden, einfach so, aus einer Laune heraus, erschien mir genauso abscheulich wie die Sache mit Fritz. Die Blutwurst jedenfalls wollte ich partout nicht essen, meine Schwester auch nicht. Dass es am Ende dann doch nicht zum Kehledurchschneiden kam, nützte da nichts mehr; und warum dann ein armes Schaf abgeschlachtet werden musste, leuchtete mir schon gar nicht ein. Ich mochte Schafe.

Gott nicht zu mögen, hätte ich mich damals freilich nicht zuzugeben getraut, nicht einmal vor mir selber, obwohl ich nicht verstehen konnte, wie ein angeblich liebender Vater tatenlos zusehen konnte, wie sein eigener Sohn grausam zu Tode gequält wurde, obwohl er gar nichts gemacht hatte, und was das damit zu tun haben sollte, dass ich mich manchmal in eine feige Notlüge flüchtete oder heimlich von den Weihnachtsplätzchen naschte. Meine Eltern jedenfalls konnten mir verzeihen, auch ohne barbarische Strafgerichte abzuhalten.

Überhaupt, diese Sache mit der Hölle und der Ewigkeit: Bis Weihnachten (das war damals eine plausible Operationalisierung) Stubenarrest wegen ein paar geklauter Plätzchen? Und dann keine Geschenke und jeden Tag Haue? Auch wenn Erwachsene das oft arrogant ignorieren, Kinder haben durchaus ein Gefühl dafür, was gerecht ist, was verhältnismäßig. Ich hätte das damals zwar nicht so formulieren können wie heute, so fühlen aber schon: Das wäre, als wenn jemand zehntausend Prozent Zinsen fordern würde, Straf-Wucher, das wäre das.

Die absonderlichste Zumutung aber war, man solle dieses ungreifbar bedrohliche Wesen lieben. Glauben, das hätte ja noch angehen können, freilich mehr schlecht als recht, fürchten, das wäre natürlich kein Problem gewesen, aber lieben?  Obwohl ich inzwischen gelernt habe, dass Menschen allerlei Seltsames lieben können, das sie sich in ihrem Kopf zurechtgemacht haben, fällt es mir auch heute noch schwer, mir irgendetwas vorzustellen, wenn jemand von seiner Liebe zu Gott spricht, welchem auch immer. Wird da aus Opportunismus sozial Erwünschtes nachgeplappert, auch ohne viel dabei zu denken und zu fühlen? Wird im Geiste Pascals manövriert, der vorgerechnet hat, es sei im Falle, es gäbe da doch einen, taktisch klüger, sich auf die Seite der stärkeren Bataillone zu schlagen?

Oder sind am Ende doch Gefühle im Spiel? Etwas wie das Stockholm-Syndrom, jenes seltsame Phänomen, dass sich Menschen denjenigen emotional anschließen, die sie über einen längeren Zeitraum hinweg gefangen halten und bedrohen? Der Name ist erst im 20. Jahrhundert anlässlich eines Geiseldramas in Stockholm in die Welt gekommen, die Sache aber ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Die größte Gruppe Betroffener sind die Frauen in patriarchalischen Gesellschaften. Wenn sie ein halbwegs erträgliches Leben führen wollen, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als ihre sie ständig kontrollierenden männlichen Unterdrücker zu lieben – und ihre Burka zu mögen. Eine Frau, die in so einem Teil steckt, bleibt, unabhängig von ihrer subjektiven Befindlichkeit, ein trister Anblick; denn nicht die Frau, die so empfindet, ist pervers, möchte man da frei nach einem bekennenden Homosexuellen formulieren, sondern die Situation, in der sie lebt.

Als Teenager glaubte ich, nicht mehr an Gott zu glauben, aber ich hatte immer noch Angst vor ihm. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch, einer, in dem wohl auch andere leben. Wenn heller Tag ist und Frühling, dann ist leicht lachen über die Höllenängste unsere Altvorderen; aber es gibt auch dunklere Stunden, trübe. So leicht wird man einen Gott nicht mehr los, wenn der sich erst einmal in den Hirnwindungen eingenistet hat. In unserem Kopf lässt sich nichts vollständig löschen, da bleibt immer etwas zurück, auch und gerade von der gehabten Angst, und wartet auf seine Stunde. Es ist diese Art von klebriger Angst, die Leute dazu bringt, unter dem Bett nachzusehen, um sich davon zu überzeugen, dass da nichts ist. Nicht, dass sie wirklich an ein Monster glauben, schon gar nicht bei Tageslicht; aber das hilft nur bedingt. Angst braucht keine reale Bedrohung, ihr genügen die Phantome der Einbildung und der Schlaf der Vernunft.

Nein, so schnell wird man nicht fertig mit seinen Göttern und Dämonen; und das liegt nicht nur an dieser grundlosen Angst, die frei im Raum schwebt, bereit, sich blind dahin zu stürzen, wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen starrt, da ist auch dieser kaum zu stillende Trieb zu räsonieren; denn die besten Argumente fallen einem bekanntlich ja immer erst auf dem Heimweg ein, und die wollen alle noch formuliert werden, wenn es sein muss vorm Spiegel beim Zähneputzen. Da muss man einem gehenden Gott noch schnell nachrufen, was von einem zu halten sei, der den Wert eines Menschen in letzter Konsequenz an seiner persönlichen Eitelkeit misst: dass der an ihn glaubt. Und wie der Vater, so der Sohn, muss man da noch nachtreten, hat der nicht auch seine Jünger immer wieder gefragt, was die Leute über ihn sagen? Klar, was er hören wollte.

Irgendwann hört man dann auf, in allem und jedem einen Sinn zu suchen, sich zu fragen, warum stößt gerade mir jetzt dieses Unglück zu? Warum bekomme ich so selten, was ich mir wirklich wünsche? Man beginnt, sich damit abzufinden, dass die Dinge so laufen, wie sie laufen, weil die Welt halt so ist, wie sie ist. Das ist nie persönlich gemeint; und da versteckt sich auch keiner hinter den Kulissen, der sich das alles ausgedacht und inszeniert hat. Wer sollte auch ein Auschwitz planen? Was für ein kranker Geist müsste das sein? Nein, da ist keiner, dem man das alles in die Schuhe schieben kann.

Erst wenn man aufgehört hat zu fragen und zu hadern, hat man wirklich aufgehört zu glauben. Präsent bleibt er trotzdem; denn er ist ja der Gott der anderen, die nicht aufhören, von ihm zu reden, die sich auf seinen angeblichen Willen berufen, um Forderungen zu stellen und die bereit sind, diese mit psychischem Druck und notfalls auch mit physischer Gewalt durchzusetzen – auch und gerade gegenüber denen, die das alles nicht glauben.

Und dann beginnt, wenn man aufgehört hat, mit Gott zu hadern, mit den Gläubigen alles noch einmal von vorn. Aus der epischen Debatte mit dem einen wird die hoffnungslose Debatte mit den vielen. Der eine hat nie zugehört, weil er nicht kann, die vielen hören nicht zu, weil sie nicht wollen; denn sie bringen das Opfer des Verstandes und sind auch noch stolz darauf. Was aber bringt sie dazu, lieber auf ihren Verstand zu verzichten als auf ihre Götter?

Und dann beginnt man zu ahnen: Nicht Gott ist das Rätsel, das Glauben ist das Rätsel, diese an sich nützliche kognitive Funktion, die es uns erlaubt, nicht nur die selbst gemachten Erfahrungen zu nutzen, sondern auch die anderer. Das hat allerdings seinen Preis; denn dieses Alles-glauben-Können, ob wahr oder erlogen, ob erfahren oder erfunden, ist die Mutter aller Götter und aller anderen Phantome der Einbildung. Am Ende stellt sich heraus: Das Problem ist gar nicht Gott, das Problem sind die Gläubigen – und was sie glauben, tun zu dürfen, weil sie glauben. Wer mag da von Sieg sprechen? Überstehen ist alles auf unserer gar nicht so großen Insel der säkularen Zivilisation und Humanität. Der Rest ist ein Albtraum im Schlaf der Vernunft.

Wolfgang Marx

 

Dieser Beitrag ist zuerst im „ZENO, Jahrheft für Literatur und Kritik“erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Wolfgang Marx, geboren 1943, studierte Psychologie, Philosophie und Humangenetik in Kiel und München. Von 1980 bis 1994 war er Professor für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, von 1994 bis 2008 als Professor für allgemeine Psychologie an der Universität Zürich tätig. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Bücher sowie Essays, erzählende Prosa und Gedichte. Seit der Emeritierung im Jahre 2008 widmet er sich verstärkt literarischen Projekten.

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