von: Heiko Strech
15. Mai 2018
© pd
Berlin 1905: Der Dramatiker und Schauspieler Frank Wedekind steht vor Gericht. Wegen <Verbreitung unzüchtiger Schriften>. Am Ende: Freispruch.
Zürich 2009: Ein Deutschlehrer am Literargymnasium Zürich steht vor Gericht. Die Mutter einer Schülerin klagt, weil der Lehrer mit seiner Klasse Wedekinds Pubertäts-Tragödie <Frühlings Erwachen> gelesen hat. – Freispruch.
Unglaublich, dass Wedekind nach über hundert Jahren, längst anerkannt als grosser Dramatiker, wegweisend für die Moderne mit seinen Tragi-Grotesken – dass er noch heute derart provoziert. Unglaublich, aber auch erfreulich. Denn provozieren heisst ja <hervorrufen>, Auseinandersetzung fördern. Eine der Grundaufgaben von Kunst. <Ich glaube nicht, dass ein heutiger Komödienschreiber an Wedekind vorbeigehen kann>: So Friedrich Dürrenmatt.
Frank Wedekind wurde am 24. Juli 1864 als zweites von sechs Kindern des Arztes Friedrich Wilhelm und der Emilie Wedekind in Hannover geboren. Aus politischen Gründen mit der Familie in die Schweiz emigriert, kaufte Vater Wedekind das Schloss Lenzburg. Frank besuchte in Aarau das Gymnasium. 1890 begann er in Zürich <Frühlings Erwachen>, seine <Kindertragödie>. Erst 1906 kam es zur Uraufführung unter Max Reinhardt in Berlin.
Das Stück war im wilhelminischen Deutschland mit seiner Doppelmoral – Verlobter geht ins Bordell, Verlobte wartet brav bis zur Heirat – eine ungeheure Provokation. Geht es doch um nichts anderes als um das Hereinbrechen der Naturgewalt Sexualität in die Pubertät. Ein Schüler onaniert auf dem Klo, zwei schwule Schüler küssen einander, Wendla und Melchior gehen ins Heu, zeugen ein Kind. Eine Abtreibung wegen der <Schande> tötet Wendla. Ein gnadenlos karikiertes Lehrerkollegium wirft Melchior von der Schule, weil er für seinen Mitschüler Moritz eine Aufklärungsschrift verfasst hat. Nichts weiter.
Am Ende bringt sich Moritz um. In der grandios symbolistisch-expressionistischen, damals radikal avantgardistischen Schluss-Szene auf dem Friedhof erscheint Moritz, seinen Kopf unter dem Arm, will Melchior mit in den Tod nehmen. Da erscheint der <vermummte Herr> – der Lebenswille, in der Uraufführung gespielt von Wedekind selbst. Er zieht Melchior mit sich fort von Leid und Tod.
2013 entschied sich die Theatergruppe des Zürcher Literargymnasiums mit ihrem Leiter, eine Bühnencollage aus <Frühlings Erwachen> und eigenen Texten aufzuführen. Ein Schüler: <Auch wenn zwischen uns 122 Jahre liegen, unsere Gefühle sind gleich.> So produktiv reagierten die Jugendlichen auf den <Schulskandal> von 2009.
Wedekind seinerseits hielt grossartig produktiv durch gegen alle Widerstände von Verbot und Zensur. Wegen eines Spottgedichts auf Kaiser Wilhelm kassierte er sieben Monate Festungshaft. Der <Bürgerschreck> war übrigens auch ein witziger Unterhalter. Im Kabarett <Die Elf Scharfrichter> verpackte er Satire in geistreiche Chansons. In eigenen Stücken trat Wedekind als Schauspieler auf, nicht durchweg professionell, aber mit überwältigendem Charisma.
Sein Lieblingsautor? Friedrich Schiller! Denn auch für Wedekind war das Theater eine <moralische Anstalt>. Allerdings eher eine <amoralische Anstalt> gegen die Spiessermoral. In der Tragödie <Lulu> (1913), seinem Hauptwerk, stellt er 2006 in der Rolle eines Zirkusdompteurs im roten Frack eine betörende Frau auf die Bühne: <Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, / Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.>
Das <Tier> Lulu steht, im Gegensatz zu den domestizierten <Haustieren>, für die freie Liebe. In typisch Wedekindscher Zuspitzung vertritt sie <des Lasters Kindereinfalt>. Unschuldig-schuldig stürzt sie Männer reihenweise in Leid und Tod. Das starke Stück lässt bis heute niemanden kalt. Wedekind, beeinflusst von Zirkus und Tingeltangel, entwickelt früh ein <Theater der Grausamkeit>, entfaltet mit ausgepichtem Bühneninstinkt ein hoch expressives Panorama von Sex and Crime auf der Bühne. Am Ende ersticht Jack the Ripper die Lulu. Aber Wedekind meint es ernst im Grotesken: Lulu ist nicht einfach eine Femme fatale mit freier Sexualmoral, sondern die unterdrückte Menschennatur überhaupt, die von der Gesellschaft erstickt wird.
Am 9. März 1918 starb Wedekind in München an einer missglückten Blinddarm-Operation, längst berühmt als wegweisender Dramatiker. Gegen zehn Lulu- Filme wurden inzwischen gedreht, zuletzt 2009 einer fürs ZDF. 2006 kam in den USA ein erfolgreiches Musical heraus. Sie alle überragt Alban Bergs Oper <Lulu> von 1937, uraufgeführt im Opernhaus Zürich – das kongeniale Meisterwerk.
Heiko Strech
Heiko Strech wirkt als Literat, Sprecher und Kulturjournalist in Zürich. Mit der kommentierten Lesung und Theaterdialogen und Chansons zu Wedekind ist er zusammen mit der Schauspielerin Sofie Erhardt, der Sängerin Macha Soukenik und des Pianisten Martin Kunz unterwegs. Die Uraufführung fand im Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich statt.
Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeit zu Heiko Strech finden Sie hier…