von: Heiko Schwarzburger
6. Februar 2014

Der letzte Tote der Mauer

Vor 25 Jahren (1): Chris Gueffroy wird an der Mauer in Treptow erschossen. In seinem Roman „Die Glöckner von Utopia“ lässt H.S. Eglund die dramatischen Ereignisse auferstehen. Der Roman über den aufrechten Gang ist aktueller denn je.

Gedenkstele für Chris Gueffroy, der vor einem Vierteljahrhundert an der Mauer in Treptow erschossen wurde. Er war das letzte Opfer der innerdeutschen Grenze. © HSE/BZ PolBildung

Am 5. Februar 1989 wurde der zwanzigjährige Chris Gueffroy an der Berliner Mauer erschossen. Er war das letzte Opfer der Grenze, die ein Dreivierteljahr später endgültig fiel. In der Nacht zum 6. Februar hatten Gueffroy und ein Freund versucht, die Mauer zu überwinden. Vier Soldaten eröffneten das Feuer, er starb im Kugelhagel. Sein Freund überlebte schwer verletzt.

Die Beiden hatten geplant, in Treptow zu fliehen, wo die Grenze hinter einer Kleingartenkolonie verlief, am Zweigkanal in Britz/Neukölln. Kurz vor Mitternacht scheiterten die Flüchtlinge am letzten Hindernis, einem meterhohen Metallzaun. Mehr als zwanzig Schüsse wurden abgefeuert, trafen Gueffroy ins Herz.

Empörung breitete sich aus

Der Tod Gueffroys wurde im Februar 1989 überall in Ostdeutschland bekannt, durch mündliche Weitergabe. Offiziell gab es keinen Mord. Die Empörung war ein wesentliches psychisches Moment für den wachsenden Widerstand, der sich beispielsweise in den Montagsdemonstrationen in Leipzig ausdrückte. Sie begannen im Umfeld der Frühjahrsmesse im März, mit einer Handvoll Demonstranten und Ausreisewilliger.

Der Schriftsteller H.S. Eglund war damals im gleichen Alter. Aufmerksam verfolgte er die Ereignisse. So war er bei den Montagsdemonstrationen und in Dresden aktiv, wo die Wende später durch Straßenschlachten um die Flüchtlingszüge aus der Prager Botschaft eskalierte. 2009 schrieb er den Roman „Die Glöckner von Utopia“, in dem er auch den Mord an Chris Gueffroy dichterisch aufgreift.

Leseprobe, aus dem dritten Teil „Niemandsland“:

Fred ging die Skepsis des alten Sozis nicht aus dem Sinn. Er gestand sich ein, dass er selbst vollkommen naiv auf die Ereignisse blickte, von Wunschdenken geleitet. Deutschland, blitzte es durch sein Hirn. Wie versunken das klingt. Ihm fiel Hölderlins bittere Klage ein: Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt? Und dennoch: War der kranke Dichter nicht von einem deutschen Handwerker aufgenommen worden, weil ihn der Hyperion derart beeindruckt hatte?

Fred spürte, wie gespalten er war. Deutschland, das war zutiefst überschattet von den Gräueln der Nazis. Deutschland, in diesem Wort schwangen Auschwitz mit und Treblinka, die Ghettos in Riga und Warschau, das brennende Coventry. Aber Deutschland, das waren auch die Weiße Rose und die Rote Kapelle, das waren Robert Koch, Karl Marx und Albert Einstein. Deutschland, das war Ernst Bloch, der hoffnungssüchtige Grenzgänger dieser schizophrenen Nation. Er dachte: Wir haben gelebt wie Amputierte. Wir diskutierten über Marx, dabei blieben uns Trier und London verschlossen. Wir paukten Einstein, aber Zürich und Princeton waren unerreichbar. Rezitierten Goethe, den halben Goethe, auf Leipzig und Weimar beschränkt. Nun stehen Straßburg und Frankfurt am Main offen. Vielleicht ist es an der Zeit, Faust neu zu lesen. Oder Heines Harzreise. Oder Friedrich Hölderlin. Deutschland, dachte Fred, wer weiß schon, was das ist? Wer ahnt, wie tief das Erbe in unseren Knochen steckt?

Pflastermüde schleppten sie sich über unbekannte Plätze, auf denen Autoverkehr rauschte, durch hohle Straßen mit glatten Fassaden, mit Balkonen und Erkern, mit langweiligen Glaswänden in stählernen Rahmen. Sie schritten über eine riesige Brache, die größte Wunde dieser zerrissenen Metropole, ein erdiges Schlammfeld inmitten der Stadt. Amerikanische Soldaten lungerten an ihrem Jeep, sie rauchten. Bis zum Reichstag war es nicht weit, kein Steinwurf, die vier Türme auf den Ecken des Kolosses reckten sich in den Regenhimmel wie steife Nacken. Vor dem Reichstag stand ein rostiger Zaun, an dem Kreuze hingen. Auf den Kreuzen standen Namen und Daten, Schleifen waren daran befestigt, Kränze und Blumen. Hier standen die Toten der Mauer auf, für einen kurzen Augenblick. Am letzten Kreuz blieb Fred stehen. Es war das Ende dieser beklemmenden Prozession, das jüngste Kreuz, aus dem Februar, ein junges Leben, gerade zwanzig Jahre alt. Zaghaft strich Fred über das Holz, vielleicht, weil der Tastsinn den stärksten Eindruck der Realität vermittelt. Er hatte Thomas Freiling vor Augen, und er dachte: zwei Opfer desselben Wahnsinns. Er ging zu einer Frau, die frische Blumen anpries, kaufte zwei Rosen, eine für das Kreuz und eine für Tom, die er in die Maschen des Zaunes klemmte. Durch eine unsichtbare Wand hörte er Kats Vorschlag:

„Bevor wir rübergehen, sollten wir eine Pause machen. Mir tun die Füße weh.“

Die nächste Leseprobe erscheint am 12. Februar: „Die Russen räumen Afghanistan!“

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