von: Burkhard Jahn
31. Dezember 2016

Der (fast) vergessene Zauberer

Zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer ( geboren am 9. Dezember 1916 in Hamburg; gestorben am 21. August 1991 in Poschiavo)

© Buchcover Suhrkamp

Als er 1991 fünfundsiebzigjährig starb, war der studierte Maler und Bühnenbildner ein Star der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gewesen, der gleichwohl schon unter grosser öffentlicher Beachtung 1984 seinen Abschied vom Schreiben verkündet und erklärt hatte, fortan nur noch malen zu wollen.

Die Gründe dafür waren schwerwiegende, von Pessimismus umschattete gewesen. Die Konsequenz der Umsetzung hatte dann tatsächlich seiner lebenslangen Verwundung durch Nazi-Horror und Holocaust und seiner seismographischen Empfindung für den Totentanz einer in den Abgrund taumelnden Welt nicht Heilung, zumindest aber Mildung beschert.

Sein Werk ein schillerndes „Se non è vero, è molto ben trovato“, das nach der so vielbeachteten wie heftig umstrittenen Mozart-Biographie von 1977 seine Perfektion finden sollte in seinem so diabolisch perfekten, stupend gelehrten Meisterstück: in der 1981 zunächst auch als Biographie annocierten, aber – wie er erst später bekannte – durch und durch erfundenen Lebensgeschichte des englischen Bildungsreisenden und Kunstbetrachters Marbot. Den hattte es in Wahrheit nie gegeben. Ein fulminantes Fake und wohl auch Ausdruck einer tiefen Verletzung, wo wir doch die Verwundungen des Menschen Hildesheimer von Anbeginn aus seinen brillanten Kunststücken herauslesen, aus Kunststücken, die – mal evidenter, mal verborgener – geprägt sind von dem, was ich „depressive Eleganz“ nennen möchte.

Jedoch das Dunkle in dieser Prosa trübt so wenig wie es be-trübt. Es grundiert nur die Schönheit. Vielleicht ist das ein Weg, diesem so spezifisch Hildesheimer‘schen EROS DER MELANCHOLIE auf die Spur zu kommen, der nicht nur mich vom ersten Moment an fasziniert hatte.

Seinen Wohnsitz hatte der lange von Erfolg, stetig wachsender Prominenz und Beachtung Verwöhnte seit 1957 in Poschiavo genommen, weit genug vom Geburtsland Deutschland entfernt, nah genug einer ihm tröstlichen Italianità.

Der Dauerbrenner der schliesslich bei Suhrkamp erschienenen „Lieblosen Legenden“, hatte der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur eine betörende Eleganz, einen unfasslich leicht dahingeworfenen Spott auf Kunst- und Geistesweltgetue der damaligen Mode, eine geradezu weltmännische Lockerheit und das Perlenspiel eines wahren Zauberers entgegengesetzt.

Gleichwohl: die Arbeit als Protokollführer und Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen zuvor war durch die Konfrontation mit den Biedermannsgesichtern der Mörder zum Trauma geworden, das bis in die beiden grossen Prosawerke „Tynset“ und „Masante“ mitschwingen wird.

Wer das Schrecklichste gesehen hat, der kann die Welt nie mehr ganz ernst nehmen. Und verbindet sich mit solcher Erfahrung die Virtuosität eines betörenden Stils, haben wir den Stoff, aus dem die Hildesheimer‘sche Literatur gemacht ist.

Nicht nur im frühen Schelmenroman „Paradies der falschen Vögel“ ging es um Kunstfälschung. Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal wegen der Doppelbegabung Hildesheimers und dann wegen „Marbot“. Hier war der Zauberei des Autors, war dem so tiefsinnigen Un-Ernst des Autors das Meisterstück gelungen: die völlige Vermischung von Realität und Phantasie, der evidente Beweis der Fragwürdigkeit allen menschlichen Ernsthaft-Tuns.

Man wusste nie ganz genau bei diesem Autor, ob man nun über das anscheinend Ernstgemeinte lachen durfte oder sollte oder das anscheinend Unernstgemeinte ernstzunehmen hatte. Gipfelnd in „Marbot“ hatte Hildesheimer ein ihm gemässes Universum geschaffen.

Seine Rede über das Absurde Theater einst war kanonisch, seine Theaterstücke gelten als deutschsprachige Zeugnisse der Gattung, und doch erschienen mir schon früh und heute umso mehr seine eigenen Beiträge zum Absurden Theater bereits wie klammheimliche Satiren auf das Absurde Theater.

Auch hier stand Wolfgang Hildesheimer nicht im Zeitgeist, sondern über ihm.

Und so wie Collagen die bevorzuge Kunstform sind, zu der der Bildende Künstler in den letzten Lebensjahren zurückfindet, so kann man auch seine literarischen Erfindungen als eine Art Collagen betrachten: virtuose Verarbeitungen des Zettelkastens und der Erinnerungen zu einem neuen eindrucksvollen Ganzen. So überrascht nicht, dass Wolfgang Hildesheimer, der grübelnde Schlaflose in „Tynset“, uns, seine Leser, teilhaben lässt, wie er eine wahrlich atemberaubende Geschichte seines Sommerbettes sozusagen aus dem Stand daherzaubert, eine durchkomponierte nocturne Fuge der nach und nach aufeinandertreffenden, enggeführten und sich wieder trennenden Stimmen, gipfend im rasanten Pesttod aller Personnage unter dem Mond der englischen Nacht anno 1522, im Wirtshausbett, das die sieben Schläfer in atemberaubende Verknüpfungen bis in den grausigen Tod bringt. Für 27 Seiten spielt hier wieder einmal der Autor mit seinen Erfindungen und mit seiner scheinbar improvisierenden Virtuosität wie ein Teufelsgeiger.

Als wenige Jahre später die literaturwissenschaftlichen Seminare deutscher Hochschulen solcherlei lustvolles Phantasieren und Erzählen zum bürgerlichen Trödel erklärten, war ,Masante‘ noch nicht geschrieben und behauptete sich dann ab 1973 tapfer gegen den bilderstürmerischen Furor.

In den letzten Lebensjahren ist es Hildesheimer verleidet, mit Entsetzen Spott zu treiben. Der Schriftsteller zeigt öffentlich seine Verletztlichkeit, erklärt nicht nur seinen Abschied vom literarischen Schreiben angesichts einer auf den Untergang zusteuernden Welt, sondern das Ende der Literatur überhaupt.

Vielleicht kann ich so weit gehen, die divergierenden Aspekte des Schriftstellers Hildesheimer – den so leichtfüssigen Spott der frühen Texte

bis zur gespenstisch plausiblen Wirklichkeitsvortäuschung in „Marbot“, vom schlaflosen Erzähler in „Tynset“ und „Masante“ bis zum Mozart-Biographen –   im wahrsten Sinne des Wortes in den Collagen seiner letzten Jahre zu neuer besänftigter Gestalt eben „zusammengeleimt“ – collagiert – zu finden.

Letztlich sorgt eine Laune des Schicksals dafür, dass eine  – zumindest oberflächlich betrachtet – in völliger Ahnungslosigkeit beendete Collage den Titel „Totentanz“ tragen wird. Die letzte Arbeit HIldesheimers. In der folgenden Nacht stirbt er an einem Herzinfarkt, was uns geradezu als ein Witz des Fatums erscheinen muß, hätte doch Wolfgang Hildesheimer über exakt eine solche Sottise in seinem literarischen Schaffen mit lustvollem Spott geschrieben. Kuriosum und Kabbala. Er hätt‘s so erfinden können.

Am 9. Dezember wäre er hundert geworden.

Es ist vielleicht fünf Monate her, dass mir eine junge Frau von einer Lesung aus Wolfgang Hildesheimers „Lieblose Legenden“ vorschwärmte und dabei das Lob in den Jargon ihrer Generation kleidete. Die Geschichten – so pries sie in höchsten Tönen – seien „total abgefahren“.

Vielleicht wird nun dem Autor Wolfgang Hildesheimer mit den Liebhaberinnen und Liebhabern des „total Abgefahrenen“ eine neue Leserschaft erwachsen. –  Wäre doch schön!

Burkhard Jahn

Der Text erschien auch in der Weltwoche und auf Logbuch bei Suhrkamp.

Der bei Zürich lebender Schauspieler und Autor veröffentlichte den Gedichtband Himmelblauer November, den wir hier vorgestellt haben…

Hier finden Sie Bücher von und über Wolfgang Hildesheimer