von: Urs Heinz Aerni
2. Juli 2015

„Den Patienten aktiv einbeziehen“

Rapid Recovery heißt das Programm von Biomet und soll die Patientenversorgung effizienter und erfolgreicher machen – in jeder Hinsicht. Der Journalist Urs Heinz Aerni stellte Fragen an die Projektverantwortliche in der Schweiz, Martina Remonda

Rapid Recovery ©

 

Urs Heinz Aerni: Rapid Recovery ist entwickelt worden um für Patienten, die einen künstlichen Gelenkersatz erhalten, alle Bereiche der Patientenversorgung von der präoperativen Untersuchung bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus zu verbessern. Bevor wir zu den Details kommen, wer steckt als Spiritus Rector hinter diesem Konzept?

Martina Remonda: Der dänische Chirurg Prof. Henrik Kehlet hat bereits in den 1990er Jahren Ansätze entwickelt, die es ermöglichten, Patienten nach einer OP wieder rasch genesen zu lassen. Man spricht von der sog. „Fast‐Track‐Chirurgie“. Auf Grundlage von Kehlets Erkenntnissen und in Zusammenarbeit mit ihm wurde das Rapid Recovery Programm als Versorgungskonzept zur Behandlung von Patienten, die einen künstlichen Gelenkersatz an Knie, Hüfte oder Schulter erhalten, entwickelt. Rapid Recovery bedeutet „rasche Genesung“. Das Programm zielt darauf ab, Traditionen in Krankenhäusern zugunsten optimierter Prozesse und Behandlungsergebnisse zu hinterfragen und entsprechende Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten. Grundlage für diese Verbesserungen sind stets aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Neben medizinischen Parametern wie beispielsweise modernen Operations‐ und Narkosetechniken spielt vor allem die aktive Einbindung des Patienten in den Behandlungsverlauf eine wesentliche Rolle.

Aerni: Ein Teil von Rapid Recovery ist, dass mehrere Patienten schon Tage vor der OP zusammen in einer Art Seminar oder Schulung informiert werden. Dann sind auch alle Beteiligten des Krankenhauses anwesend, vom Operateur bis zur Physiotherapeutin. Wie wird das von den Patienten angenommen?

Remonda: Wir bekommen zur sogenannten Patientenschule grundsätzlich sehr positive Rückmeldungen aus den Kliniken die mit dem Rapid Recovery Programm arbeiten. Der„mündige Patient“ liefert sich ja heute keinesfalls dem „Gott in Weiß“ aus. Er beliest sich schon vor dem Arztbesuch im Internet, hat viele Fragen und ist durchaus kritisch. Rapid Recovery macht sich diese Neugier zunutze und bezieht den Patienten aktiv in den Genesungsprozess mit ein. Es ist wichtig, dass die Patienten umfassende Informationen darüber erhalten, was im Zuge einer Gelenkersatzoperation geplant ist. Eine Art Erwartungsmanagement, das auch dazu beitragen soll, dass sich Patienten als Partner im Behandlungsprozess fühlen und ihre Genesung aktiv mitgestalten. Zudem dürfen Rapid Recovery‐Patienten immer auch einen sog. „Coach“, einen vertrauten Begleiter, mit zur Patientenschule bringen. Der Coach wird mitgeschult und kann dann auch nach der OP gut unterstützen.

Aerni: Wo sehen Sie die Vorteile der kollektiven Vorbereitungs‐Veranstaltung?

Remonda: Wie gesagt, die umfassende Information über die bevorstehende Gelenkersatz‐ OP ist sehr wichtig. Für viele Patienten ist es aber besonders hilfreich, dass bei der Patientenschule andere Patienten zu treffen, bei denen der gleiche Eingriff geplant ist. Man tauscht sich schon vorher aus und lernt sich kennen. Patienten, die gemeinsamen die Patientenschule besucht haben, werden üblicherweise auch in der gleichen Woche operiert und treffen sich dann entsprechend wieder. So kann eine Gruppendynamik entstehen von der alle profitieren.

Aerni: Kleine Patientengruppen werden am selben Tag operiert und werden noch am Tag der OP mobilisiert. Im weiteren Genesungsverlauf finden die physiotherapeutischen Übungen oft dann auch in der Gruppe statt. Ich nehme an, dass dies zur gegenseitigen Motivierung gedacht ist? Funktioniert es?

Remonda: Richtig, die Patienten werden dazu ermuntert, auch in der Gruppe miteinander physiotherapeutische Übungen zu machen. Gemeinsam zu üben macht Spaß, kann helfen Ängste abzubauen und spornt natürlich an, rasch wieder auf die Beine zu kommen. Es wird niemand gezwungen da mitzumachen, aber grundsätzlich kommt es immer sehr gut an.

Aerni: Der Entlassungs‐Tag wird bereits beim Eintritt ins Krankenhaus geplant, kommt das gut?

Remonda: Die Entlassungsplanung findet schon frühzeitig, idealerweise bereits am Patientenschulungstag vor dem stationären Aufenthalt, statt. Das ist nur möglich, weil die gesamte Behandlung beim Rapid Recovery Programm klar strukturiert ist. Zum einen ist das für die Patienten eine gute Sache – sie wissen, was sie an jedem Tag ihres Spitalaufenthaltes und darüber hinaus erwartet. Zum anderen ist diese Form der strukturierten Prozesse natürlich sehr vorteilhaft für die Spitäler. Dank der sogenannten Behandlungspfade ist immer klar, was für welchen Patienten als nächstes ansteht. Falls der Patient aus medizinischen oder anderen Gründen länger im Spital bleiben muss, wird das individuell selbstverständlich berücksichtigt. Ohne, dass die festgehaltenen qualitativen Entlasskriterien vom Patienten erreicht werden, wird niemand entlassen.

Aerni: Rapid Recovery verspricht durch Kontinuität im Prozess „mehr Raum für mehr Patientenorientierung“. Schönes Ziel, was hält Sie an dieser Zuversicht fest?

Remonda: Das ist nicht nur unsere Zuversicht, das ist eine Tatsache. Immer wenn Sie Abläufe standardisieren, setzen Sie gleichzeitig Ressourcen frei für individuelle Anforderungen. Und das macht sich Rapid Recovery zunutze. Ich denke zudem, dass unter anderem in meinen Ausführungen zur Patientenschule schon klar geworden ist, dass Rapid Recovery ein absolut patientenorientiertes Programm ist. Mehr noch: Es richtet sich nicht nur auf den Patienten aus, sondern bezieht ihn ausdrücklich in seine Genesung aktiv mit ein.

Aerni: Rapid Recovery soll Krankenhäuser dabei unterstützen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung ihrer Versorgungsprozesse zu nutzen. Warum ist das so wichtig?

Remonda: Dazu würde ich gerne ein Beispiel anführen: Früher wurden die Patienten nach einer Gelenkersatz‐OP erst einmal drei Wochen ins Bett gepackt. Nur nicht überlasten, hat man gedacht. Heute wissen wir aus zahlreichen Studien, dass das genau das Falsche ist! Wenn sie unnötig lang im Bett liegen, bauen Patienten Muskulatur ab, der Kreislauf wird geschwächt. Kliniken sollten also hinterfragen, warum sie das tun was sie immer tun, und die Entscheidung für eine bestimmte Art der Versorgung immer auf eine fundierte wissenschaftliche Grundlage stellen. Und weil die Wissenschaft eben festgestellt hat, dass Bettruhe nach einer Gelenkersatz‐OP tendenziell eher ungünstig ist, ist fester Bestandteil des Rapid Recovery Programms die Frühmobilisation.

Aerni: Das sieht konkret wie aus?

Remonda: Das heißt, Patienten dürfen und sollen schon am Tag der OP unter physiotherapeutischer Anleitung wieder in Bewegung sein, um den Kreislauf in Schwung zu halten, nicht unnötig Muskulatur abzubauen und vor allem Vertrauen in ihr neues Gelenk und die neugewonnene Mobilität zu gewinnen.

Aerni: Medizinpersonal steht immer mehr unter ökonomischem Druck und möchte zugleich die Patientenzufriedenheit gewährleisten oder steigern. In welchem Bereich fällt Ihr neues Konzept mehr ins Gewicht?

Remonda: Da bin ich ganz klar: Die Patientenzufriedenheit steht immer im Vordergrund! Heutzutage wollen Patienten auch nach einer Gelenkersatz‐OP bald wieder aktiv und schmerzarm am täglichen Leben teilhaben. Dazu trägt Rapid Recovery als umfassendes Versorgungskonzept maßgeblich bei, das belegen mittlerweile verschiedene Studien. Aber da Sie die ökonomischen Aspekte ansprechen: Die Erfahrung zeigt uns, dass Kliniken, die ihre Versorgungsprozesse optimieren meist auch von ökonomischen Vorteilen profitieren.

Aerni: Neue Herausforderungen stellen sich auch an die Teamarbeit im Krankenhaus. Welche Umstellungen sind beim Personal nötig wenn eine Klinik sich entschließt, mit dem Rapid Recovery Programm zu arbeiten?

Remonda: Spitäler die mit dem Rapid Recovery Programm arbeiten, gründen üblicherweise eine Steuerungsgruppe, die sich intensiv damit beschäftigt, den Behandlungsprozess ständig im Sinne des Patienten und auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu optimieren. In dieser Steuerungsgruppe sind deshalb alle am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen beteiligt. Physiotherapeuten, Anästhesisten, Mitarbeiter der Pflege, Operateure, Sozialdienst – sie alle haben Anteil an der Genesung und sollen deshalb den Prozess aktiv mitgestalten. Entsprechend müssen die von Ihnen angesprochenen Umstellungen oft vor allem in den Köpfen stattfinden. Es entscheidet eben nicht mehr nur der Chefarzt allein, sondern das gesamte Behandlungsteam. Aber auch da können wir nur Gutes berichten, denn für die Mitarbeiterzufriedenheit ist diese interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe ein großes Plus.

Aerni: Die Ökonomisierung im Gesundheitssystem und im Medizinbereich sorgt für einigen Diskussionsstoff, in der Schweiz seit der Einführung der sogenannten Fallpauschale erst recht. Wie schätzen Sie diesen Trend ein?

Remonda: In Deutschland arbeitet man ja schon seit nunmehr 10 Jahren mit dem DRG‐ System, insofern würde ich da weniger von einem Trend sprechen als von gelebter Realität, der wir uns einfach stellen müssen. Und ich sehe darin auch große Chancen: Wir können die ökonomischen Zwänge zum Anlass nehmen, uns grundsätzlich über die Qualität der Versorgung Gedanken zu machen. Unsere Erfahrung mit dem Rapid Recovery Programm zeigt diesbezüglich, dass zum Beispiel eine kürzere Krankenhausverweildauer durchaus ein Indikator für Qualität sein kann. Wenn Prozesse klar strukturiert sind, das Klinik‐Team gut und aufeinander abgestimmt zusammenarbeitet und der Patient aktiv als Partner in die Genesung einbezogen wird, ist das erfahrungsgemäß eben nicht nur gut für den Patienten, der rasch wieder aktiv am Leben teilnehmen kann, sondern es birgt auch ökonomische Potenziale für die Klinik. Das ist eigentlich das großartige am Rapid Recovery Programm – über eine konsequente Fokussierung auf Qualität erreichen die Krankenhäuser automatisch auch eine bessere Wirtschaftlichkeit.

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Martina Remonda wurde 1959 in Berlin geboren. Ihre Ausbildungsstationen führten von der Germanistik in die Medizin durch Ausbildung im Bereich Krankenpflege in Hamburg, OP in Bern und Studium der Logotherapie und Existenzsanalyse. Berufliche Stationen waren u. a. im Produktmanagement Chemotherapeutika, MBA und seit 2010 ist sie beim Orthopädiekonzern Biomet verantwortlich für Rapid Recovery in der Schweiz.