von: Heiko Schwarzburger
5. Juni 2013

„Das Leben ist tödlich. Aber es muss nicht sterbenslangweilig sein.“

Am 14. Juni stellt Carsten Jasner in der Kiezkantine sein viel beachtetes Buch „Mut proben!“ vor. Ab 20 Uhr entführt er seine Hörerschaft auf eine riskante Reise, die man gemeinhin mit dem Begriff „Leben“ umschreibt. Aber keine Bange: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird: Oder – mit Ringelnatz: „Sicher ist, dass nichts sicher ist“. Oder wie Hölderlin meinte: „Wo Gefahr naht, wächst das Rettende auch.“

Carsten Jasner hat ein Buch über Mut zum Risiko geschrieben. Und fand heraus, dass die größte Sicherheit darin liegt, Unsicherheiten zu akzeptieren. © H.S. Eglund

Carsten Jasner (49) lebt seit 1996 im Prenzlauer Berg, schreibt Texte für Zeitschriften, Magazine. Nun hat er sein erstes Buch geschrieben: „Mut proben!“. Ein Gespräch über Risiko und Langeweile, über Neugier und die Suche nach Sicherheiten. Das Türgeld zur Veranstaltung am 14. Juni beträgt drei Euro, um Anmeldung (Telefon: 4484484) wird gebeten. Ort: Kiezkantine in der Oderberger Straße 50.

Wenn man 17 Jahre im Prenzlauer Berg lebt, gilt man zwar nicht als Ureinwohner, aber mindestens als alter Hase. 1996 lauerte hier noch das Unentdeckte, das Risiko. Lieben Sie das Risiko?

Darum bin ich nach Westberlin gezogen, Mitte der 80er, als die wilden Hausbesetzer Kreuzbergs durch die Medien geisterten. Allerdings landete ich versehentlich im Wedding, damals der unbeliebteste Bezirk. Abgesehen von Spandau.

Warum Wedding?

Bekannte wussten von einer freien Wohnung. Dass in die Gegend sonst keiner wollte, merkte ich erst, als ich dort war. Aber das Haus war prima: Südbalkon, nette Nachbarn. Wir montierten die Balkontrennwand ab, und ich blieb. Mit den Jahren wurde es allerdings ein bisschen langweilig. Bis ich eines Abends im Fernsehen Momper sagen hörte, wir sollten mal die Ruhe bewahren und nicht alle auf einmal nach drüben drängeln. In dieser Nacht bin ich kreuz und quer durch Mitte geradelt. Ich war fassungslos und begeistert: Ein riesiges Abenteuerland hatte sich aufgetan, wie aus einer anderen Zeit.

Und dann folgten nächtliche Streifzüge – auch durch den Prenzlauer Berg?

Klar. Das Café Westphal am Kollwitzplatz war das Epizentrum. Ab und zu habe ich in einem Jugendclub in der Czarnikauer Straße schlechten Rotwein getrunken.

Wie ist das Leben im Prenzlauer Berg heute, zwanzig Jahre später? Immer noch aufregend?

Eher kiezig. Ich habe alles in einer Reichweite von fünf Minuten. Mein Büro befindet sich in der Kulturbrauerei. Der Kindergarten und später die Schule für meine Töchter – alles schnell erreichbar. Das genieße ich.

Klingt nach einem ruhigen, beschaulichen Leben, wie in einem wohl situierten Vorort von Stuttgart …

Mit dem Ruhrgebiet kenne ich mich besser aus …

Okay, wie in einer Reihenhaussiedlung im Pott. Vermissen Sie Mutproben? Haben Sie deshalb ein Buch darüber geschrieben?

Als Familienvater ändert man schon mal seine Einstellung zum Abenteuer. Ursprünglich wollte ich wissen: Wie komme ich sicher durchs Leben. Aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso häufiger landete ich beim Gegenteil: beim Risiko.

Hand aufs Herz ­– lieben Sie die Sicherheit oder das Risiko?

Beides. Und genau das hat mich verwirrt. Bis mir ein paar wissenschaftliche Studien in die Hände fielen. Ihre Quintessenz: Jeder Mensch sucht das Risiko, egal, ob er sich für mutig oder vorsichtig hält. Die Forscher sprechen von einem Trieb.

Trieb zur Sicherheit oder zum Risiko?

Das bedingt sich gegenseitig. Sicherheit kann man auf zwei Wegen erreichen, oder es zumindest versuchen. Zum einen durch materielle Aufrüstung: Sicherheitsschlösser, sichere Autos mit Knautschzone und Airbag, Helme beim Radfahren. Die Wissenschaftler fanden jedoch heraus, dass diese Art der Sicherheit nur dazu führt, dass die Leute mehr Gas geben. Sie brauchen den Kick, sie wollen ihn haben. Je mehr sie sich in Watte packen, umso leichtfertiger und tollkühner werden sie.

Nennen Sie uns dafür ein Beispiel?

Eltern stülpen ihren Fahrrad fahrenden Kindern gerne und immer häufiger Helme auf den Kopf. Doch Studien zeigen, dass sie den Kindern anschließend erlauben, auf viel verkehrsreicheren Straßen zu fahren. Dadurch fordern sie Unfälle eher heraus. Oder nehmen Sie das Skifahren. Früher kannte man nur Lederschuhe, um die Bindung der Ski zu halten. Wenn man stürzte, brach man sich ab und zu das Fußgelenk. Heute sind schwere Stürze an der Tagesordnung, obwohl die Leute spezielle Stiefel tragen und Anzüge mit Schützern für Ellenbogen oder Knie und Helme. Manchmal enden solche Unfälle tödlich wie beim Zusammenprall des ehemaligen thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus mit einer Frau. Mit der Sicherheitsausrüstung steigen die Geschwindigkeiten auf der Piste. Das ist eine regelrechte Spirale, ein Wettrüsten von Sicherheit und Risiko.

Sie erwähnten einen zweiten Weg zur Sicherheit. Was meinen Sie damit?

Ich kann auf diese Sicherheits-Aufrüstung durchaus verzichten, wenigstens zum großen Teil. Indem ich Herausforderungen annehme und etwas wage. Denn dann gewinne ich Erfahrungen und eine innere Sicherheit. Damit bin ich viel besser gegen die Gefahren unserer Welt gewappnet, gegen Finanzkrisen, drohende Arbeitslosigkeit, Altersarmut und die vermeintliche Bedrohung durch Terroristen oder Flüchtlinge aus Afrika. Das ist ein Mut, den man trainieren kann. Diese Erkenntnis hat mich selbst überrascht.

Vielleicht liegt die Lösung in einem Kompromiss aus der materiellen Sicherheit und dem Mut zum Risiko …

So etwa. Um mutig zu sein, braucht man bestimmte Grundlagen. Gesundheit ist wichtig, auch müssen die primitivsten materiellen Bedürfnisse erfüllt sein. Eigentlich könnten wir heute viel mutiger sein, als die Generationen vor uns. Mut zum Risiko hat für mich auch mit Freiheit zu tun.

Warum mauern sich dennoch viele Menschen in ihrer materiellen Sicherheit ein, sind in den Ansprüchen eines scheinbaren Vollkaskoschutzes gefangen?

Weil sie glauben, was man hat, das hat man, und das werde einen auch schützen. Doch Sicherheit ist flüchtig. Die Jagd nach ihr bringt Unzufriedenheit oder Furcht – vor Inflation, vor Erdbeben, Krankheit, Unfällen oder auch Scheidung. Ein fettes Bankkonto mag einige Sicherheit verleihen, aber in der Regel wollen die Leute noch mehr Geld und haben zugleich Angst, es wieder zu verlieren. Oder sie tricksen sich selbst aus, indem sie anfangen zu spekulieren und zu zocken. Da kommt wieder der Reiz des Risikos ins Spiel, der dafür sorgt, dass wir zu viel Sicherheit langweilig finden. Wir wollen positive Gefühle, und die bekommen wir am einfachsten durch Mut und Bereitschaft zum Risiko.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Nehmen wir den Alltag im Prenzlauer Berg. Sie treffen zufällig einen interessanten Menschen, trauen sich aber nicht, ihn anzusprechen. Natürlich haben Sie Angst vor der Zurückweisung, das ist völlig normal. Fassen Sie jedoch Mut und tun es, dann wird auch im Falle der Zurückweisung das positive Gefühl überwiegen: Ich habe es wenigstens versucht. Finden Sie diesen Mut nicht, bleiben Sie immer unzufrieden mit sich selbst. Eine vertane Chance.

Sie erwähnten Studien, die bei Ihnen Aha-Erlebnisse auslösten…

Diese Momente waren tatsächlich beglückend –  ich erkannte mehr und mehr Zusammenhänge, die ein ganz neues Bild ergaben.

Lauert in solchen Studien nicht oft nur akademische Spielerei?

Diese Untersuchungen wurden empirisch durchgeführt. Beide Forscher, Trimpop in Jena und Wilde in Kanada, testeten die Risikobereitschaft von Hunderten Versuchspersonen. Dass wir neugierig sind, geradezu triebhaft Neues wagen, ist ein wichtiges Erbe der Evolution. Seit zwei Millionen Jahren ist der Mensch auf Wanderschaft. Ich habe dann mit mutigen Menschen gesprochen und sie begleitet, zum Beispiel einen Chirurgen und eine blinde Marathonläuferin. Wagemutige Menschen, wie auch Jazzmusiker, wenn die auf der Bühne improvisieren. Das sind unerhörte Einblicke. Als ich das Buch schrieb, hatte ich den Eindruck, etwas wirklich Neues zu erzählen.

Der Untertitel zu Ihrem Buch lautet: Das Leben ist tödlich, aber es muss nicht sterbenslangweilig sein. Klingt ein bisschen nach dem Slogan der Spaßgesellschaft: No risk, no fun.

Der ist auch gar nicht so verkehrt. Mich stört allerdings, dass die Freude am Risiko mehr und mehr in die Freizeitecke gedrängt wird. Im Beruf, in der Industrie oder in der Familie hat das Risiko kaum mehr was zu suchen. Es ist etwas Negatives, das wir minimieren wollen bis auf einen unvermeidlichen Rest – vor dem wir uns dann ganz besonders doll fürchten. Man kann aber die Ungewissheit der Zukunft nicht ausschalten. Mit der müssen wir leben, und das kann sogar Spaß machen. Vielleicht sollten wir uns an der Zeit orientieren, als der Begriff „Risiko“ zum ersten Mal im heutigen Zusammenhang auftauchte: in der italienischen Renaissance. Da stachen Kaufleute in See, um jenseits unbekannter Meere neue Ufer zu finden und Menschen, mit denen sie handeln konnten. Sie bereiteten sich auf dieses „rischio“ gut vor, kalkulierten die Gefahren, folgten dabei aber ihrer Abenteuerlust.

Wie hat sich die Auffassung vom Risiko seitdem gewandelt?

Mit der Entdeckung der Neuen Welt, der Formulierung von Naturgesetzen und der Erfindung allerlei technischer Gerätschaften wurde die Idee verlockend, alles beherrschen zu können, alles im Griff zu haben. Das Leben zu konservieren. Unwägbarkeiten auszuschalten. Ironischerweise haben wir dabei Systeme entwickelt, die so komplex sind, dass sie tatsächlich nicht mehr kaputt gehen dürfen – Atomkraftwerke etwa oder die Finanzwirtschaft. Solche Gigantismen haben uns in einen Sicherheitswahn getrieben, der nicht mehr Sicherheit schafft, sondern Angst. Aus dieser Klemme sollten wir uns befreien. Und können wir auch.

Carsten Jasner: Mut proben!
Das Leben ist tödlich. Aber es muss nicht sterbenslangweilig sein.
288 Seiten, gebunden
Blanvalet Verlag (Random House)
ISBN 978-3-7645-0409-0
Preis: 19,99 Euro