von: Martin Kunz
14. April 2017
© Abbildung: Der Mensch als Kreuz. Agrippa von Nettesheim 1533
Einer meiner Freunde versucht immer wieder, mich vom Humanismus abzubringen. Warum? Weil es, so der Freund, letztlich nicht um den Menschen gehe, sondern um Gott. Man mag irritiert sein über dieses Argument, aber ich lasse mich nun einmal auf sein Gedankenspiel ein. Ich will aber diesen Gedanken, improvisierend, wider die Absicht des Freundes gerade humanistisch denken, nämlich so:
Auch Gott ist noch nicht bei sich. Es bedarf des Menschen, der erkennend und handelnd Gott zu sich kommen lässt. Unsere Aufgabe ist es, das Werden Gottes, also das Werden des Umfassend-Menschlichen zu ermöglichen: dadurch, dass ich von mir absehe, um etwas Grösseres in den Blick zu bekommen, aber wieder auf mich zurückgewiesen werde, weil dieses Grössere mich braucht. Das Absolute wird sich seiner selbst bewusst, indem es relativ wird. Die anstössigste Geschichte, die von einem Gott erzählt wird, ist die, dass er Mensch geworden sei.
Gott ist prototypisch Mensch geworden, um seiner Vollendung näher zu kommen. Er hat das bloss Jenseitige überschritten (oder unterschritten), indem er sich inkarniert hat. Er hat alle abstrakte Metaphysik hinter sich gelassen und liess sie zu „Physik“ werden: Er ist Fleisch geworden, Leib, Seele, konkrete Gestalt. Ein realisiertes Kunstwerk. Blosse Metaphysik ist blauer Dunst, aber wenn ein Gott sich herablässt, wird aus himmlischer Unverbindlichkeit irdischer Ernst. Gott selbst wird Atheist. Der Logos wird nicht mehr nur gedacht, er wird konkret. Die Erde bedarf des Konkreten. „Konkret“ kommt von concrescere: miteinander wachsen. Es genügt nicht, gläubig zu sein. Es genügt nicht, an den Mensch gewordenen und gekreuzigten Gott zu glauben. Es geht darum, dass ich selber zum Schnittpunkt von zwei Achsen werde: radikal horizontal und radikal vertikal, radikal diesseitig und radikal anders. Einerseits ganz zoologisch, andererseits alles Zoologische überschreitend. Um es heideggernd zu sagen: Das Dasein selbst ist immer schon der Überschritt.
Gott ist also ein vollständiger Mensch geworden, Existentialist: Mensch, der nicht das ist, was er ist, und der das ist, was er nicht ist (Jean Paul Sartre), mutig umherschweifend, mal da, mal dort wirkend, mal liebend, mal zornig. Er pflegt unkonventionelle Beziehungen. Er ironisiert Dogmatiker, zeigt Wege auf, die zur Wahrheit des Lebens führen könnten, indem er selber einen solchen Weg geht. Indem er klärt, verwirrt er. Er spricht, indem er parabolisiert (parabolare, in Gleichnissen reden: der Ursprung allen Parlierens). Er will uns etwas zeigen von einer befreiten Zustandsform, die fern und doch ganz nah ist, in uns und in Reichweite unserer Hände. Und er liebt es, sich zu widersprechen.
So verschmelzen in meinem Gedankenexperiment Theologie und Anthropologie, indem sie zur Reflexion einer poetischen Praxis des umfassenden Seins werden. Schnittpunktreflexion. Im Schnittpunkt der Achsen vollzieht sich die Ästhetik der Existenz. Das ist nicht Honigschlecken. Ans Kreuz kann man gehängt werden. Das ist die Realität. Ostern dagegen ist eine Hoffnung. Denken wir beides zusammen, könnte das zu einer neuen Ontologie führen, zu einer neuen Unordnung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Der Mensch würde sichtbar als das Wesen, das die Schönheit der Freiheit nur haben kann als Tragikomödie, die zunächst einmal mit dem Tod endet. Im sich erneuernden Menschen ist der alte aufgehoben. Keine leichte Aufgabe stellt sich da. Mit Sport und Diät ist das nicht zu haben.
So weit, skizzenhaft und anfechtbar, ein paar Aspekte eines möglichen Humanismus unter Berücksichtigung der Metapher Gott (oder der Realität Gottes?). Die bisherigen Humanismen sind in der Tat neu zu denken. Sie waren zwar immer schon auf den aufrechten Gang ausgerichtet, ihre Vertreter waren aber meist auf einem Auge blind. Sie haben stets irgendetwas vernachlässigt oder jemanden vergessen: Menschen anderer Hautfarbe, die Frauen, ganze Kontinente, die Verantwortung für die Mitgeschöpfe. Sie waren auf verhängnisvoll eingeschränkte Weise anthropozentrisch: erklärten den bleichen Europäer der gebildeten Klasse zum Universalmodell.
Was müsste also an einem neuen Humanismus anders sein? Unter anderem unser Verständnis des sogenannten Guten, also auch des Bösen, der abgespaltenen Dimension, der Hölle, in die wir ja immer nur die andern schicken. Auch durch das Gute weht der Wind der Negation. Und das Böse ist der Erkenntnisgrund des Guten. Aber vielleicht wäre es besser, solche substantivierten Adjektive überhaupt zu vermeiden. Es gibt ein Jenseits von Gut und Böse. Wir wissen es seit Nietzsche, seit den Pionieren der tiefenhermeneutischen Psychologie: Wir sollten gestalten statt spalten.
Manche vermuten, dass wir an einem neuralgischen Punkt der Evolution stehen. Beginnen wir erst jetzt zu ahnen, was das Kreuz auch bedeuten könnte – dieses seit der Steinzeit archetypisch dunkel leuchtende Symbol? Wird sich bald ein neuer Umgang mit Differenzen, eine neue Form von Kreativität zeigen, die der bisherigen spottet? Ein Sowohl-als-auch sondergleichen? Neue Manifestationen, Inkarnationen kreuzfideler Andersheiten?
Oder kommt es sogar so weit, dass wir das mühsame Bild des Kreuzes gar nicht mehr brauchen? Weil uns ein integraler Modus von Denken und Fühlen aufgeht? Weil wir die Sprache der Nondualisten begriffen haben und ihre Einsicht endlich leben können: Verbindungen / Ganzes und Nichtganzes / Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes / Einklang und Missklang / aus Allem Eines und aus Einem Alles? (Heraklit)
Unwahrscheinlich.