von: Urs Heinz Aerni
31. August 2014
© pd Akademie Menschenmedizin
1999 wurde die Akademie Menschenmedizin in Zürich gegründet um einepatientenorientierten, vernetzten Therapie- und Heilungsansatz sowie die Integration der Geisteswissenschaften in die Angebotsstruktur des Gesundheitswesens zu fordern. Das tut sie durch Symposien, Medienarbeit, Austauschtreffs und zum Beispiel durch Kunst-Führungen.
Hinter dieser Bewegung steht die Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar, der Arzt Christian Hess, der Direktor einer Rehaklinik in Basel Stephan Bachmann und die Pflegefachfrau Maya Karin Arnold.
Die interdisziplinäre Behandlung von Patienten mit dem Einbezug von Psychotherapie, Kunst, Medizinethik und Philosophie sei ihr Anliegen und sie engagiere sich mit verschiedenen Maßnahmen für eine Veränderung im Gesundheitswesen, wird verlautbart. Ein Anliegen, dass immer mehr Fachkreise in der Deutschen Medizinbranche teilen.
Soeben ging in Zürich ein Symposium zu Ende, das sich besonders mit dem Faktor Zeit und Medizin befasste, hier mal die ersten Eindrücke und Inhalte.
Jazz oder Klassik? Der Pianist André Desponds eröffnet das Symposium auf jeden Fall so virtuos, dass Besucher und Gäste im Kunsthaus blitzartig schweigen.
„Heute soll es unser Lieblingstag sein“ so begrüßt die Gastgeberin Annina Hess-Cabalazar, Präsidentin der Akademie Menschenmedizin. Sie kündet an, dass nach jedem Referat ein sogenanntes künstlerisches Feedback geschieht, mit der Künstlerin Susanne Niederer und dem besagten Pianisten.
Zeitgeist gleich Zeitnot
„Wir brauchen Zeit für die Gesundheit am Arbeitsplatz“, das erklärt Pflegefachfrau und Vorstandsmitglied Maya Karin Arnold und meint aber die Gesundheit des Personals.
Christian Hess setzt den Begriff „Begrenzung“ und meint damit einen Raum für Entscheidungsfindung für den einzelnen Menschen, um in der Zeit ruhig zu werden, unabdingbar für das Wohl und Heilungsqualität.
„Ich habe auf meinem Schreibtisch kein Foto von meiner Frau, denn ich sehe sie genug real“, gibt Vorstandsmitglied Stephan Bachmann zu und löst Lächeln beim Publikum aus, er möchte damit aufzeigen, wie wichtig für ihn die Ressource Zeit sei, für Leben und Job, dazu gehört auch genug Schlaf wie die Siesta am Sonntag. Er ist Direktor des Zentrums für Querschnittgelähmte und Hirnverletzte REHAB Basel.
Eine Ballett-Performance mit Klavier unterbricht das Reden und leitet zum nächsten Beitrag über.
Wie glaubwürdig ist die Forschung?
Fortschritt habe viel erreicht, sie wird weiter möglich sein aber mit kleineren Schritten, meint Peter J. Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften Basel (SAMW).
Obwohl immer mehr Transparenz verlangt wird, überfordert sie uns. Parallel werden immer mehr kritische Stimmen gegenüber der Wissenschaft laut, vor allem in der angelsächsischen Welt. Der Druck auf die Wissenschaft wird stets stärker und generiert immer mehr Daten und Studien, die oft gar nicht abgeschlossen werden und auch nicht darüber informiert wird.
Meier-Abt zitiert Nobelpreisträger, die sich weigern nicht mehr in den wichtigsten Fachmedien zu publizieren, weil deren Qualität nicht mehr vertretbar seien, da Zeit für seriöse Studien und Recherchen zunehmend fehle und der Druck zur Publikation zwecks Erfolgssuche ungleich größer werde. Zudem wisse man vielfach zu wenig, ob und wie Forschungsresultate in er medizinischen Praxis umsetzbar seien, also den Weg in die reale Umsetzung finden; einerseits aus Gründen der Kommunikationen zwischen Forschung und Gesundheitswesen, andererseits wegen zu viel Achtung auf mediale Resonanz.
„Wir brauchen weniger Abfall“ so Abt-Meier und appelliert eine Entschleunigung in den medizinischen Wissenschaften, mehr Zeit zur Prüfung und Sicherstellung. Und der Mut, sich zu irren, sich korrigieren zu dürfen sei unerlässlich, dieser Mut drohe unter dem Druck des globalisierten Wettbewerbs zu verschwinden.
Die Physik, die Zeit und was gesund macht
„Ich muss Ihnen gestehen, dass ich kein Arzt bin aber immerhin Patient“ so die ersten Worte von Ernst Peter Fischer, Physiker und Wissenschaftshistoriker. Er erklärt auch, dass er mit geschenkter Zeit lebe; 2011 erhielt er eine künstliche Aorta und verdankt seiner Frau sein Leben.
Für die Physik sei die Zeit keine Uhr sondern eine Wolke, es gebe nur ein Vorwärts, man könne nichts zurückdrehen. Fischer verstand es mit seinem Exkurs in die Zeitlosigkeit der Physik das Publikum zu bannen und lachen zu lassen. „Wir sollten das Wissen abschaffen, dann sieht man die Zukunft besser“.
„Eine Symmetrie in den Naturgesetzen weist auf eine Erhaltungsgröße in der Natur hin. Die Symmetrie der Zeit ergibt die Erhaltung der Energie“ zitiert Fischer die Mathematikerin Emmy Noether (1882 – 1935), eine Wissenschaftlerin, die neu zu entdecken gelte. Der Mensch sei ein Lebenswesen, dass Grenzen kennt mit der Fähigkeit diese zu überwinden.
Geschichte sei nicht das, was uns zustößt, sondern was wir machen, so Fischer. Menschen machen auch ihre Gesundheit als kreative Geschöpfe. „Mir tun die Beine weh wenn ich hier stehe, ich kann kaum gehen aber ich bin gesund, ich lebe! Sie entscheiden, wann Sie gesund sind, man kann alle gemessenen Daten an mir als problematisch sehen aber ich lebe.“ Der Wert sei das, was der Mensch schafft. Die Gesundheit ist ein persönlicher Entscheid, sie ist Teil einer Lebenszeit, des Lebenswillens. Neben dem Sein und Nichtsein ist auch das Möglichsein. „Ihre Wirklichkeit ist jetzt eine andere als zu Beginn meines Gequatsche, sie ist jetzt wieder eine andere, weil ich wieder was gesagt habe“. Die Welt entstünde durch den Beobachter. „Gesundheit ist die Bewegung der Energie, die ich habe“ betonte Fischer gestikulierend, es sei an der Zeit, sein Leben zu entschleunigen oder besser gesagt, „entdecken Sie die Gelassenheit“. Im Sexualakt müsse man ja immer kommen, dabei sei man ja schon da.
„Das Tempo haben wir nicht erfunden“
Der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler fragt, ob dieser Umstand uns unter Zeitnot bringe? Unsere Zeit ist eine winzige Szene in einem großen Drama, so zum Beispiel die christliche Sichtweise. Anekdotisch resümiert er das Vormittagsprogramm des Symposiums.
Die Technik sei einzig eine Beschleunigungsmaschine, sie könne uns aus der menschlichen Fasson bringen. Wir verwandeln uns zu nervösen Flipperautomaten. Meine Eltern hatten nur Zeit für das Lebensnotwendige, keine für die Kür. Was war das „Lebensnotwendige“? Wozu all die Technik von TGV bis Handy wenn wir heute keine Zeit haben? Weil wir die leere Zeit nicht schätzen. Wir verplempern die leeren Stunden, so Hasler.
Obwohl, die Schweiz ist ja nicht so schnell; auf Rolltreppen in Zürich stehen die Leute als hätten sie alle Zeit der Welt. In Südkorea machen das nur die Touristen. „Windstille der Seele“ nannte Nietzsche eine lange Reise. Abschalten um neu aufzudrehen, nicht nur mit neuen Kräften, sondern mit neuen Ideen.
Anlässlich einer Zahnmedizin-Veranstaltung thematisierte Hasler den Anspruch alter Leute auf lückenlose Zähne … bis zum Ende. Die Spuren der Zeit sind so gut wie unkenntlich zu machen. Alles kämpfe gegen den Zahn der Zeit. Die Religion tauge mit den Himmelsversprechen auch nicht mehr so richtig, man wolle eben sofort entschädigt werden. „Das Dilemma sei, dass das menschliche Binnenleben immer jünger wird, muss man das äußerlich sehen?“, fragt Hasler mit ironischem Unterton.
Was hat der alte Mensch zu sein? Er reduziert sich auf das was er ist, oder was er war. Etwas Sündigen ist wichtig, für die Erinnerung. Aber, nach dieser Dämmerung bricht kein Morgen heran. Ein Zeitproblem.
Macht die Zeit gleich?
Vielleicht sind die Chancen im Umgang mit der Zeit noch nie so gut wie heute, hält der Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel, Ueli Mäder, fest. Aber unsere Eltern hätten damals die Aussicht, dass es die Kinder mal besser haben würden, die heutigen Eltern könnten das anders sehen. Mäder attestiert eine Zunahme der Ungleichheit im Zeitmanagement und die finanziellen Chancen in der Gesellschaft. Die gleichen Umstände würden unterschiedlich beurteilt; wenn ein Geschäftsmann ein Bild von seiner Familie auf dem Tisch stehen habe, so werde er für seinen Familiensinn gelobt, mache das eine Frau, dann hieße es, dass sie nur an die Familie denke. Mäder weist auf die Zunahme von Arbeitsausfällen durch Bornout hin, somit auf den Missstand der Chancengleichheit.
„Wenn wir etwas länger betrachten, kann der Blick sich verändern.“ rät Mäder und empfiehlt, unterschiedliche Zeiten zu kultivieren, dazu gehöre auch das Abwägen zwischen Kapital und Zeit. Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny werde oft verschenkt und nicht umsonst. Aber nicht die Langsamkeit sei gemeint, die instrumentalisiert und bewusst taktisch eingesetzt werde wie in der Politik, so wie Initiativen, die hinausgezögert würden mit der Hoffnung, die abstimmende Bevölkerung werde vieles vergessen haben.
„Gras wächst nicht schneller…“
Das Problem Zeit aus der Sicht von drei angehenden Spitzenleuten für das Gesundheitswesen
Die Psychologin Esther Frank gibt Einblick in ihren Alltag, wie er mit einem unguten Gefühl in der Magengegend auf der Hinfahrt beginnt und für sie ist dieses Sprichwort aus Afrika sehr wichtig: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“. Für sie seien die budgetierten Zeiten für die verschiedenen Bereiche und Dienste eine sehr große Herausforderungen. Nur 15 Minuten für interdisziplinären Austausch, 30 Minuten für Administration und so weiter. Betriebsbedingte Störfaktoren sind nicht mitgerechnet, zur Veranschaulichung erwähnt sie die Betreuung einer Mutter mit ihrem Kind, die äußerste Konzentration forderte und Rapportarbeit in … die Überstunden verschieben ließ.
Forderung nach Flexibilität
Assistenzärztin Isis Amitirigala wird öfters gefragt, wie sie zeitlich ihre ganze Arbeit unterbringt. Sie gibt zu, wie es auch für sie immer eine Herausforderung sei.
Der Patient ist nur eine Fallnummer, doch was steckt dahinter? Sie erzählt von zwei Beispielen: eine junge Frau mit Grippesymptome und ein Herr Fischer mit einem Aorta-Riss. Zwei Fallnummer aber zwei Geschichten wie sie nicht unterschiedlicher sein können.
Ihre eigene Balance zwischen Beruf und Privatleben sei genauso maßgebend wie eine stabile und entspannte Familienstruktur für die Qualität ihrer Arbeit. Amitirigala fordert mehr flexible und teilzeitliche Stellenangebote und verspricht dafür, den vollen eigenen Lebensgeist in die Arbeit fließen zu lassen.
Familientaugliche Zustände
Aus der Sicht der Pflegfachfrau Nadine Eimbeck gelte dieser Apell ebenso für ihren Alltag, zudem die Stillberatung miteinschließt. Jedes Kind, jede Mutter benötigt individuelle zeitliche Aufwendungen. Sie zählt die Zeitregelungen auf, die geplant sind für Brustkontrolle (zwei Minuten), Stillberatung (60 Minuten) oder Austrittsgespräch (30 Minuten). Mit dem Fallbeispiel einer erkrankten Mutter mit Stillschwierigkeiten und gestresstem Baby führt sie vor Augen, wie es im Prinzip unmöglich sei, zeitlich die verschiedenen Zuwendungen einheitlich zu definieren. Arbeitszeit haben oder nicht haben, sei zunehmend ein Thema. Unkonzentriertheit führt zu Fehlern und Unkosten. Als Akademie Menschenmedizin sie für das Symposium anfragte und sie erfuhr, um was ginge, so wusste sie, dass sie unbedingt dabei sein wolle. Nochmals betonte sie die Notwendigkeit von Familientauglichen Teilzeitstellen.
Nach Apellen adressiert an Managements und Leitungen von Spitälern u. a. für mehr Verantwortung gegenüber Personal und deren Bedürfnissen setzen die Drei folgendes Schlusscredo: „Der Rhythmus der Natur ist leitend, der vorgegebene Takt ist dem Menschen nicht zuträglich, seien wir taktlos!“
Was lehrt die Gesundheitsversorgung in der „Dritten Welt“?
„Zeitumkehr“ ist das Stichwort, das Marcel Tanner vom Schweizerischen Tropen- und Public Health Institut Basel ins Spiel bringt und kritisiert die vielen Konsulenten, Berater und Trainer, die in die Länder geschickt werden um Konzepte aufzustellen und Tipps abzuliefern während Patienten krank bleiben oder stürben. Man stehe vor einer immensen Herausforderung in Anbetracht der mangelnden Infrastruktur, schlechte Zugänglichkeit zur Versorgung sowie zu wenig ausgebildetes Personal in den Ländern der sogenannten Dritten Welt.
Tanner erläutert das Prinzip DALYs (Disability Adjusted Life Years) , seit 1993 bekannt, mit dem nicht die Sterblichkeit erfasst wird, sondern die Fokussierung der Beeinträchtigung eines normalen Lebens durch Krankheit. Ziel soll deshalb sein: Nicht gesundes Leben maximieren, sondern Bürden zu reduzieren.
Diesen Ansatz könnte und müsste vermehrt auch bei uns hier zur Anwendung gebracht werden. Man fahre leider nun andere Geleise, Beispiel Fallpauschale und es sei nicht einfach, auf andere Gleise umzuschwenken. Mit der Appellation, dran zu bleiben um gemeinsam zu lernen und zu verändern, verlässt Tanner das Podium.
Wünsche an die Zukunft
Der Ausklang ist dem Konkreten gewidmet. Die 180 Anwesenden werden aufgefordert, sich über die eigenen Wünsche an das Gesundheitswesen in der Zukunft Gedanken zu machen, acht Minuten Zeit zum Notieren und drei Minuten Zeit mit dem Nachbar darüber zu reden. Man sei gespannt auf die Resultate, die schriftlich in Boxen gelegt werden.
Klavierkonzert und die Versteigerung der Bilder, die die Künstlerin Susanne Niederer während des Symposiums live kreierte zugunsten der Akademie bieten den Abschluss der Veranstaltung. Ein nächstes Symposium für 2015 sei bereits in Planung, mit neuen Themen und Partnern.
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