von: Alexander Günsberg
10. September 2018
© Pressebild Alexander Günsberg
Obwohl er sich ohne weiteres Ferien im teuersten Fünfsternhotel im benachbarten Santa Margarita oder auch im nahegelegenen Portofino hätte leisten können, wo die sich die schönsten Yachten der Welt ein Stelldichein geben und Leute seines Schlages die heisse Jahreszeit zu verbringen pflegen, logierte er jeden Sommer im selben billigen Dreisternhotel in der kleinen Hafenstadt Rapallo unweit von Genua. Es hiess La Paloma, lag nicht einmal am bevorzugten Kieselstrand beim alten Leuchtturm, an dem jedoch tagsüber wegen der beschränkten Platzverhältnisse ein unbeschreibliches Gedränge der Badegäste und ihres lärmenden Nachwuchses herrscht, sondern etwas oberhalb der Schiffsanlegestellen. Das Hotel La Paloma stand auch nicht im Ruf, über einen besonders freundlichen Service, grosszügig ausgestatte Zimmer oder ein gutes Restaurant zu verfügen. Es war hauptsächlich von Urlauberfamilien der Angestellten- und Arbeiterklasse bevölkert, zu der er keineswegs gehörte. Jahr für Jahr Anfang August, mitten in der Hochsaison, fuhr in einem neuen Porsche vor, den die Hotelgäste immer wieder aufs Neue bestaunten. Er kleidete sich gediegen, trug nur das Beste vom Besten, massgeschneiderte Anzüge, rahmengenähte Schuhe, T-Shirts und Boxershorts mit dem kleinen aufgestickten Krokodil der Marke, die jeder kennt. Nur schon seine brillantbesetzte Uhr war von grösserem Wert als das komplette Gebäude des La Paloma samt Inhalt. Nie wäre es ihm eingefallen, irgendeinen Artikel, Sonnenbrillen, Cremes, Gürtel, Taschen, Badekleider, Elektroapparate oder sonstige Dinge zu günstigen Preisen am Nachtmarkt oder in einem der vielen Chinaläden des Ortes einzukaufen, wie es die anderen Gäste des Hotels taten, die ständig mit, , prall gefüllten roten, gelben, grünen oder weissen Plastiksäcken ankamen. Nein, er frequentierte ausschliesslich die eleganten Nobelboutiquen des Ortes, deren Preise sich in Nichts von den der Läden an der Zürcher Bahnhofstrasse, der Via Monte Napoleone in Mailand oder des Rodeo Drive in Beverly Hills unterscheiden und war in diesen stets ein gern gesehener Kunde.
Niemand konnte es sich erklären, warum er jeden Sommer ausgerechnet im einfachen Hotel La Paloma wohnte, nicht einmal die Besitzerfamilie, das Ehepaar Renato und Francesca Boschetti und Ihre achtzehnjährige Tochter Lorena, die an der Rezeption stand. Doch sie liessen nie eine Bemerkung fallen, war er doch ihr bester und treuerster Stammgast. Jedes Jahr, wenn die Ferien Ende August zu Ende gingen, buchte er dasselbe Zimmer im obersten Stock – obwohl nicht einmal ein Lift dort hinaufführte – wieder für nächste Jahr und bezahlte es gleich, ganze zwölf Monate im voraus, damit es fest für ihn reserviert blieb und nicht an einen anderen Gast vergeben wurde. Nie verlangte er auch nur den geringsten Preisnachlass, obwohl man ihm diesen zweifellos gewährt hätte. Es ging ihm nicht um Komfort oder Annehmlichkeiten im Hotel, auch nicht um einen günstigen Tarif. Ganz offensichtlich war es der wunderbare Ausblick auf das Meer und den Hafen, den er über alles schätzte. Jeden Sommer kam er alleine, war zu allen zuvorkommend und von ausgesuchter Höflichkeit, ohne den geringsten Klassenunterschied zu machen oder sich anderen überlegen zu fühlen, egal um wen es sich handelte. Nur Tischnachbarn im Restaurant akzeptierte er nicht und begann auch nie eine Unterhaltung, weder an der Hotelbar, noch am Kieselstrand beim alten Leuchtturm, wo immer ein kleiner Platz für ihn freigehalten wurde, auf dem Liegestuhl und Sonnenschirm für ihn bereitstanden. Allerdings begab er sich nicht oft dorthin, sondern verbrachte seine Tage zumeist anderswo, beim exklusiven Shopping, in Cafés und Bars, beim Zeitunglesen oder beim Schachspiel auf einem der dafür im Stadtzentrum extra aufgestellten Tische, natürlich nur, wenn Spielpartner vorhanden waren, was aber am späten Nachmittag meist der Fall war. Dann fanden sich immer dieselben Anhänger Caissas ein. Man kannte sich, wie man eben Menschen kennt, die man täglich trifft, aber nichts von ihnen weiss. Auch eine ledige Frau mittleren Alters von anziehendem Äusseren, vielleicht war sie auch geschieden – wer was das schon so genau – war unter ihnen. Sie machte sich Hoffnungen auf den eleganten, zuvorkommenden und wohlhabenden Mann, doch er erfüllte ihre Hoffnungen nie, wahrte stets höfliche Distanz. Auch die Männer wollten alle mit ihm spielen, da er seinen Gegnern immer ein kühles Anisgetränk oder eine andere Köstlichkeit ausgab, ohne irgendeine Gegenleistung zu erwarten.
Lorena, aber auch den hübschen Töchtern der einheimischen und ausländischen Hotelgäste war sein Verhalten völlig unerklärlich. Er war ein grosser, attraktiver Mann, braungebrannt, muskulös, intelligent, charmant und vermögend, um die vierzig und auch keineswegs schüchtern oder zurückgezogen, sondern stets selbstbewusst und guter Laune. Wo er auch war, zog er die Blicke aller auf sich, an der Bar, an der Strandpromenade, im Stadtzentrum oder bei den wenigen Gelegenheiten am Liegestuhl am Meer oder beim Schwimmen in der Bucht. Doch wie gesagt, immer blieb er allein, nie sah man ihn in anderer als freundschaftlicher, aber auf Abstand bedachter, weiblicher Begleitung, obwohl er dies keinesfalls nötig gehabt hätte. Nur zu gerne hätten ihm die Schachspielerin, Lorena und die erwähnten hübschen Töchter im Hotel Gesellschaft geleistet. Man schloss schon Wetten ab, wer wohl die erste sein würde, die sich ihn angelte. Doch er schien ein unverbesserlicher Junggeselle zu sein und es Zeit seines Lebens auch bleiben zu wollen.
Eine Schrulle hatte er allerdings: Er ernährte sich hauptsächlich von Wassermelonen. Er ass sie zu jeder Mahlzeit und in mehreren Portionen, trank dazu morgens nur einen schwarzen Kaffee, mittags nahm er höchstens einen kleinen Meerfruchtsalat und abends einen Teller Spaghetti zu den Melonen. Man nannte ihn nur noch den Melonenesser.
Mehr noch als Schachspiel, Shopping, Café- und Barbesuche, Baden im Meer, morgendliche Gymnastik und Flanieren durch die Stadt liebte er das Lesen. Er las alles, was ihm in die Finger kam, Zeitungen, Zeitschriften und Prospekte, vor allem aber Bücher. Immer ab elf Uhr abends sass er bis weit in den Morgen hinein auf der Terrasse seines Zimmers im Attikageschoss des Hotels, las einen der zahlreichen mitgebrachten Romane und starrte auf die Wellen und das im Mondschein glitzernde Meer hinunter, so als spiele sich die eben gelesene Szene vor seinem geistigen Auge ab oder als würde er selbst darin vorkommen. Es gab keine einzige Nacht in all den Sommern, in der er nicht auf der Terrasse gewesen, gelesen und in die Ferne geblickt hätte.
Im siebten Jahr seines Sommeraufenthaltes im La Paloma geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Kurz vor Mitternacht, etliche Hotelgäste waren noch wach, unterhielten sich in der Lobby oder kamen gerade vom Einkaufsbummel und den Eisdielen zurück, war er nicht mehr auf der Terrasse seines Zimmers im obersten Stock zu sehen. Das war etwas ganz Unerhörtes. Es war zwar schon vorgekommen, dass er manchmal für kurze Zeit im Zimmer verschwunden war, doch immer hatten ihn die Leute gleich darauf wieder auf der Terrasse sitzen, lesen und in die Ferne blicken sehen. Nun, zum allerersten Mal war die Terrasse verwaist. Erstaunt gewahrten die Hotelgäste und auch Lorena, dass er in die Lobby herunterkam und zielstrebig aus dem Hotel in Richtung des nahe gelegen Hafens ging, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Alles sah ihm nach. Lorena folgte ihm in einigen Abstand, damit er ihre Neugier nicht bemerkte. Eine Dampfsirene war zu hören. Ein Passagierschiff aus Griechenland war im Begriff anzulegen. Menschen strömten heraus. Als allerletzte kam eine etwa fünfunddreissigjährige Frau. Sie trug nur eine kleine Tasche, sah ihn sofort und lief auf ihn zu. Sie fielen sich in die Arme, umarmten und küssten sich. Der Kuss wollte nicht enden. Tränen liefen ihnen übers Gesicht, sie zitterten am ganzen Körper, hielten sich an den Händen wie kleine Kinder. Unbeschreibliche Liebe verband sie. Es war ein Wiedersehen, wie es nicht viele im Leben gibt. Er führte die Frau zu seinem Wagen und fuhr mit ihr weg.
Nie mehr hat man ihn im Hotel La Paloma oder an den Schachtischen von Rapallo gesehen, doch man munkelte in Italien, er hätte einen Schachclub in Deutschland gegründet, wo schon sein achtjähriger Sohn Turniere spielte und sich nur für ein Mädchen interessierte, obwohl er eigentlich noch viel zu jung für die grosse Liebe war.
Alexander Günsberg
INFO:
Geboren 1952 in Milano als Sohn jüdischer Emigranten aus Wien und Ungarn. Kindheit in Italien, Wien und Zürich. Neben und nach dem Studium der Geschichte, Psychologie und Germanistik und 5 Heiraten bereiste er die Welt und betätigte sich als Journalist, Skilehrer, Schachspieler, Autofahrlehrer, Gymnasiallehrer, Schmuckgrosshändler und Immobilienpromotor in den USA und in der Schweiz. 1974 erhielt er für die Erzählung „Aufstieg“ den Literaturpreis des Kantons Baselland. Zur Zeit leitet er einen Schach- und Kunstzirkel, organisiert internationale Turniere und schreibt unglaubliche, aber wahre Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben und denkwürdige Geschehnisse aus der Vergangenheit und der Gegenwart über Liebende, Verblendete, Krieger, Juden, Nazis und andere Menschen, die unser Dasein zu bereichern oder zu zerstören suchen.
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