von: Urs Heinz Aerni
23. Mai 2016
©
Urs Heinz Aerni: Ihr Buch „Der Schweizer Knigge“ soll verhindern, dass die Eidgenossen nicht zu „bärbeißigem Hinterwäldler“ verkommen, wie es in der Verlagsinformation zu lesen ist. Hand aufs Herz, bestünde bei den Voralbergern, Bayern und den Schwarzwäldern nicht auch Handlungsbedarf?
Christoph Stokar: Das zu beurteilen ist nicht mein Anliegen! Ich suchte beim Schreiben einen Schweizer Bezug, weil wir die Dinge hierzulande in gewissen Bereichen tatsächlich etwas anders handhaben als unsere Nachbarn. Es ist ja das erste Buch überhaupt, das explizit die heutigen und hiesigen Verhältnisse etwas unter die Lupe nimmt. Auch im Ton und in der Themenwahl unterscheidet es sich doch meist sehr stark von Exemplaren aus Deutschland.
Aerni: Man sagt den Schweizern Eigenarten nach, die schon ziemlich eigen seien. Welche finden Sie als sehr typisch und welche gar … sagen wir, grenzwertig?
Stokar: Am meisten fällt auf, dass der Umgangston generell ein sehr freundlicher ist, getragen von Respekt und Höflichkeit. Wir suchen hierzulande den Konsens und nicht die statusmäßige Abgrenzung oder das Betonen von Standes- oder Einkommensunterschieden. Diese Haltung macht es sehr angenehm in diesem Land zu leben. Bei den Details happerts zuweilen ein wenig, aber das ist weiter nicht schlimm. Manchmal überbordet dieses Harmoniebedürfnis jedoch ein wenig. Z.B. in einer größeren Runde am Tisch, wenn alle aufstehen, um auch mit den Anderen mit dem Weinglas anstoßen zu können. Das ist dann etwas kompliziert und unbeholfen. Aber als grenzwertig würde ich es nicht bezeichnen.
Aerni: Sie postulieren Anstand, Authentizität und Aufmerksamkeit. Sehen Sie einen Abwärtstrend?
Stokar: Die Lebensverhältnisse sind tatsächlich unübersichtlicher geworden. Religionen, die soziale Schicht, das berufliche Umfeld oder die Familie bieten nicht mehr die gewohnten Rahmenbedingungen. Jeder ist zum Einzelkämpfer geworden. Die letzten Jahre haben uns also von den Dramen der Schuld und des Gehorsams befreit, sie haben uns aber diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht. Wir waren noch nie so frei, durften tun, sagen oder glauben, was wir wollen. Doch es fehlt eine gewisse Verbindlichkeit. Das Buch hat sich übrigens innerhalb eines Jahres mehr als 20.000 Mal verkauft, vielleicht auch ein Indiz, dass mehr Flexibilität heute gefragt ist. Viele Menschen möchten heute wissen, wie es eigentlich korrekt ginge.
Aerni: Gesetzliche Regulierungen greifen immer mehr in das soziale Leben; ein kühles Bier gibt es an vielen Bahnhöfen nach 22 Uhr nicht mehr, Raucher stehen im Restaurant plötzlich auf und lassen die Nichtraucher am Tisch zurück um draußen in der Kälte ihrem Genuss zu frönen und in der Zürcher Straßenbahn wurden alle Abfallbehälter demontiert um die Fahrgäste umzuerziehen. Wie beurteilen Sie als Verhaltensbeobachter diese Tendenzen?
Stokar: Sie mögen in diesen Einzelfällen recht haben, generell lässt sich jedoch sagen, dass das Leben hierzulande in den letzten 20 Jahren bunter und interessanter geworden ist. Noch bis 1972 galt z.B. ein Konkubinatsverbot im Kanton Zürich, Unverheiratete durften nicht zusammen eine Wohnung mieten. Wenn die eigene Selbstverwirklichung überbordet und die Platzverhältnisse enger werden, produziert die Gesellschaft Reibungsverluste, die dann irgendwann in eine Gegenreaktion münden. Mit all den bekannten Verboten, Gesetzen und Bevormundungen. Zu begrüßen ist das nicht. Ich plädiere für eine liberale Haltung, soviel ist jedoch gewiss: Unhöflichkeit bringt Nachteile. Schlechte Manieren sind sehr ineffizient. Es geht beim Thema „Manieren“ letztendlich auch um intelligentes Selbstmarketing.
Aerni: Wie schätzen Sie den Zusammenhang zwischen digitaler Sozialpflege via Handy und Tablets und dem persönlichen Umgang zwischen Zeitgenossen in Fleisch und Blut ein?
Stokar: Das eine kann das andere nicht ersetzen! Man sollte darauf achten, dass man nicht in Parallelwelten lebt, während eines Zusammenseins also ständig checkt, was sich auf dem Mobiltelefon tut etc. Die postmoderne Beliebigkeit hat auch Abgründe.
Aerni: Zum Schluss: beschreiben Sie mir das Ambiente, in dem Ihr Buch am besten gelesen werden könnte.
Stokar: Ein entspanntes jedenfalls. Das Buch hat durchaus auch Stellen, die mit einem Augenzwickern geschrieben wurden. Es hat auch ein größeres Themenspektrum als herkömmliche Knigge-Bücher, ein alter Tanzschullehrer hat es jedenfalls nicht verfasst. Sogar wie man „anständigen“ Sex hat, wird erläutert. Denn: Das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, sondern die Gleichgültigkeit.
Christoph Stokar ist selbständiger Texter und Konzepter in Zürich. Nach der Hotelfachschule Lausanne und Praktika in Zürich, Tokio und Basel entschied er sich für einen Wechsel in die Werbebranche. In Zürich stadtbekannt sind seine Schaufensterkonzepte für die Stadelhofen-Apotheke. Er ist (Ko-)Autor verschiedener Bücher und Vater zweier Töchter im Teenageralter. Sein Buch „Schweizer Knigge“ im Beobachter Verlag wurde zu einem Kassenschlager.
Copyright © J · Alle Rechte vorbehalten · BERG.LINK
Magazine Theme v4 von Organic Themes · WordPress Hosting · RSS Feed · Anmelden