von: Martin Kunz
21. März 2017
© Urs Heinz Aerni
Ein ganzer Mensch kann ich nur werden, wenn ich aufgebe. Das Wesen, das ich bin, ist Revolte des Wesens. Georges Bataille
In uns steckt noch etwas anderes. Etwas, das nicht schon identifiziert ist. Ein Gegen-Algorithmus. Es ist etwas Drittes, etwas, das ausserhalb alles Funktionellen am Werk ist. Aber es ist verschüttet. Um ihm näherzukommen, müssen wir uns durch das erstarrte Magma hindurchfragen. Hindurchhandeln. Hindurchhorchen. Hindurchschweigen. Etwas in mir weiss, dass ich offen sein könnte für das Unvorhersehbare, das Ereignis. Nicht für das von mir gesteckte Ziel, sondern für etwas ganz anderes. Von dem ich nicht wissen kann, wie es eintreten will in mein Leben.
Was wir an uns kennen, ist das Streben nach, das Karrierewollen, das Aufbauen, Weitertreiben, Entdecken und Erschaffen äusserer Welten. Wir kämpfen auf der Horizontalen. Das ist der Alltag. Vieles davon ist notwendig, kann beglücken trotz Schweiss und Stress.
Aber wir ahnen, dass eine unbestimmte innere Leidenschaft noch nicht zum Zug gekommen ist. Dass da ein Mehr ist, ein Mehr, das etwas will jenseits des Wollens. Ein ganz besonderer Optativ. Wir decken dieses Ahnen sofort zu. Gewähren diesem Anderen höchstens auf Nebenschauplätzen einen gewissen Spielraum. Gehen ins Theater, in den Club, ins Museum. In die Kirche? Lassen uns den Überbau etwas kosten. Wunderbar! Das ist Kultur. Was wäre das Leben ohne sie!
Aber all das ist nicht das Dritte. An Vernissagen wahrgenommen zu werden, tut gut. Zu tanzen tut gut. In die Oper, in die Kunsthalle, an einen Modeevent zu gehen, erhebt. Vorübergehend. Aber ich bleibe, was ich eh schon war. Ich war gar nicht wirklich offen für das Ereignis. Denn dieses kommt von woanders her.
Plädiert jetzt da einer für das Irrationale? Müsste nicht eher für Aufklärung und Vernunft gekämpft werden? Wirklich vernünftig werden, wäre schon viel. Endlich zur Räson kommen! Das Arraisonnement ist das sturmsichere Laden des Schiffes. Und so könnte ich dann hinausstechen ins Meer, selbstgesteuert kontrollierend. Aber die Sicherheit der Räson genügt noch nicht. Was wir als Vernunft definieren, ist und bleibt von uns definiert. Das Undefinierte ist aber das, was in uns unbedingt mitleben will. Das, was hinausstechen möchte ins Meer des Unkonditionierten. Ohne Inflation, nicht grossartig, sondern in einem freien Akt der Unterwerfung unter das Grosse X wird die Freiheit der Individuation möglich. Unterwerfung unter was? Kann man das nicht weniger rätselhaft sagen? Unter die innere Wahrheit, sage ich jetzt versuchsweise. Die Wahrheit, auch wenn ich sie in mir suche und finde, ist über mir, über uns, um es räumlich und missverständlich auszudrücken. Sie durchkreuzt das gesicherte Wissen, den bürgerlichen Alltag und Schlendrian.
Die Wahrheit der Individuation ist, selbst wenn es sie nicht geben sollte, der Massstab. Der Massstab, der sich mir entzieht. Wir misstrauen mit Recht jenen, die sagen, sie hätten sie. Das ist die Dialektik der Tiefsee: Im Nichtwissen sehend werden, vielleicht etwas weit- und tiefsichtiger als ich bisher war. Zu viel mehr bringt es auch der nicht, der sich auf die Individuation einlässt: auf die Begegnung mit dem Unverstandenen, das sich nicht auf immer schon Bekanntes zurückführen lässt, sondern ohne Einpferchungen wahrgenommen werden will.
Lohnt sich das? Eine Fangfrage. Wenn ich sage: Ja! – bewege ich mich in den Gesetzmässigkeiten der Horizontalen, der Ökonomie. So verfehle ich gerade das, was nutzlos einbrechen will ins Gehäuse meines verengten Bewusstseins. Wenn ich sage: Nein! – und mich trotzdem der inneren Ausdehnung nicht verweigern will, bewege ich mich im Absurden. Das möchten wir vermeiden. Aber vielleicht ist der Durchgang durch das Absurde, das falsch Tönende, ein Muss auf dem Weg ins Offene.
Wage ich es, das Hineindunkelnde, ohne das das Erhellende nicht wirksam werden kann, zuzulassen, ohne gleich das Flickzeug hervorzunehmen? Vielleicht beginnen dann die Steine zu sprechen. Weil ich es zulasse, durch die Aura einer Frage erschüttert zu werden, weil ich einer Stimme zuhöre, die nicht schon wieder Sinn spendet, den immer schon bekannten. Erschüttert werden heisst: Das bloss Biographische wird unterbrochen.
Man könnte von einer Art Ich-Destruktion sprechen. Ich werde angeschaut und angesprochen, und es ist vielleicht unerträglich. Von wem werde ich angeschaut oder angesprochen? Vom sich Ereignenden selbst.
Niemand muss das zulassen. Ich kann auf Individuation, auf diese Übertretung und dieses subversive Passivwerden verzichten. Ich muss mich dem Willen zur Vollständigkeit nicht fügen. Aber Menschen, die es zulassen, beeindrucken uns. Sie beeindrucken uns nicht, weil sie joggen, meditieren oder Yoga praktizieren, sondern weil etwas von der unheimlichen Illumination, die in ihnen einen Wandel bewirkt hat, für uns spürbar wird. Sie haben, wie Georges Bataille formuliert, das knechtische Dasein aufgesprengt.
Martin Kunz