von: Jill Grey
1. Februar 2022

Buchtipp und Leseprobe „Der Pakt“ von Jill Grey

Annabelle lebt in einer Ehe, die von Regeln bestimmt wird. Ihr Mann George driftet allmählich in den Wahn ab, während seine Misshandlungen ausarten. Nachdem er Anny eines Nachts besonders übel mitgespielt hat, erscheint ihr eine Hexe und bietet ihr einen Pakt an, der ihr die Befreiung aus ihrer Misere ermöglicht. Anny willigt ein. Für 24 Stunden pro Woche gehört ihr Körper fortan der Hexe Cassandra. Ein Körper ist jedoch nicht dafür geschaffen, zwei Seelen zu beherbergen, zumal diese nicht verschiedener sein könnten: Annabelle, eher prüde, mit einem trockenen Humor – und Cassandra, hemmungslos, unkontrollierbar und stets auf der Jagd nach einem (sexuellen) Abenteuer. Als die junge Frau durch ihren Erfolg als Bestsellerautorin in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückt, spitzen sich die Eskapaden der Hexe zu. Gibt es einen Weg, den Pakt aufzulösen? Als Anny die Antwort erfährt, gefriert ihr das Blut in den Adern. Es gibt vier Optionen – doch eine ist inakzeptabler und schrecklicher als die andere...
Jill Grey gelingt es in ihrem neuen Buch wieder meisterhaft, Satire und Übersinnliches zu einer gesellschaftskritischen Komödie zu vereinen.

© Buchcover

AUSZUG AUS DEM ROMAN

Nach einer Woche hatte Annabelle ihr kleines Appartement komplett eingerichtet. Ferner hatte sie einen einzigartigen Wandteppich in einem Antiquitätengeschäft um die Ecke gefunden, den sie an diesem Nachmittag zum Abschluss aufgehängt hatte. Was fehlte, waren Zimmerpflanzen, und sie wollte die Dachterrasse demnächst in eine grüne Oase verwandeln.

Zur Feier des Tages hatte sie sich einen erlesenen Weißwein gekauft, mit dem sie sich am Abend auf die Dachterrasse setzte, der Musik lauschte, die von drinnen leise hinaus drang und mit sich selbst auf ihr künftiges Leben anstieß. In dieser Idylle, in welcher sie sich selig treiben ließ, drang urplötzlich dicht an ihr Ohr eine raue Stimme: »Schätzchen, an deiner Gastfreundschaft solltest du noch arbeiten.«

Mit einem Schrei schreckte Annabelle hoch, worauf der Weißwein über den Glasrand schwappte und ihre Bluse durchtränkte. Sie fuhr im Stuhl herum und erblickte die alte Hexe, die nun resigniert den Kopf schüttelte. »Noch immer so schreckhaft? Ich nahm an, ich wäre zu dieser kleinen Feier eingeladen.« Sie schürzte die Lippen. »Und nur zu deiner Information, dass du nicht mit mir gerechnet hast, kränkt mich.«

»Du? Hier?« Die Alte nickte ernst. »Ich – hier!«

»Aber das ist …? Du bist nicht real!?«

Jetzt schnaubte Cassandra genervt: »Ich sehe, du zweifelst beharrlich an meiner Existenz, was mich ebenso kränkt. Doch lassen wir meine verletzte Gefühlswelt mal beiseite. Bietest du mir auch ein Glas Wein an? Wäre jammerschade, solch einen Anlass ohne Gesellschaft zu feiern. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, hast du es mir zu verdanken, dass es überhaupt was zu feiern gibt.«

Annabelle stand auf, lief in einem großen Bogen um die Hexe herum und holte aus der Küche ein zweites Glas. Dort wischte sie sich den Fleck von ihrer Bluse und hoffte inständig, dass, wenn sie zurückkäme, die Hexe verschwunden wäre. Diese hatte es sich in der Zwischenzeit in dem anderen Korbstuhl bequem gemacht, genoss den Sonnenuntergang und lobte: »Eine vortreffliche Wahl, Anny. Genauso ein Appartement hätte ich mir auch ausgesucht. Und die Einrichtung, sehr geschmackvoll!«

»Danke.« Sie reichte ihr das Glas, lehnte sich dann an die Brüstung und beobachtete, wie Cassandra genüsslich trank, nachdem sie ihr mit den Worten »Auf dein neues Leben!« zugeprostet hatte. Dann meinte sie: »Du starrst mich an, als erwartest du, dass der Wein bei mir gleich unten rausläuft. Vergiss es. Ich bin real, gewöhn dich besser daran.«

»Das fällt mir zugegebenermaßen schwer.«

»Kommt noch. Ich hab gesehen, du hast dir oben ein Büro eingerichtet. Wann fängst du an zu schreiben?«

»Wenn ich mir sicher bin, dass ich nicht den Verstand verliere?«

Die Alte lachte herzlich. »Du hast Humor, gefällt mir!« Da ihr Gegenüber nicht lachte, fuhr sie fort: »Schätzchen, dein Verstand ist vollkommen in Ordnung.« Sie stand auf, leerte das Glas in einem Zug und stellte es auf den Tisch. »Vorzüglicher Wein, Anny, dieser Geschmack … herrlich!« Dann setzte sie ein gütiges Lächeln auf. »Ich werde morgen nochmal reinschauen.« Sie hob die Hand und ließ sie über die Stadt schweifen. »Sieh dir diese fantastischen Farben an, wenn die Sonne untergeht, ist das nicht großartig …?«

Annabelle drehte sich um und wahrhaftig, der Himmel zeigte sich in den schönsten Farben, die eine Dämmerung hervorbringen konnte. Sie wollte sich der Hexe zuwenden – aber die war verschwunden.

 

Tags darauf wachte Annabelle um sechs in der Früh auf; sie musste sich erst an die Geräusche gewöhnen, die in einer Großstadt nie gänzlich verstummten. In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein, die sie jeden Abend präparierte, sodass der Kaffee morgens durch den Filter laufen konnte, während sie duschte. Kontinuierlich zog sie die Hose des Pyjamas hoch, und als sie das wiederholte, verharrte sie in der Bewegung und schaute an sich herunter. War ihr Schafanzug schon immer so schlabbrig gewesen? Nein. Sie eilte ins Badezimmer und stellte sich vor den Spiegel, dann stieß sie einen schrillen Schrei aus. Flugs zog sie den Pyjama aus und stürmte ins Schlafzimmer, stellte sich vor diesen Spiegel und starrte mit herunter geklappter Kinnlade ihren Körper an. Was sie an diesem Morgen darin erblickte, war eine gertenschlanke Frau, die an den richtigen Stellen die perfekten Rundungen aufwies. Ihre Augen glitten hoch zu ihrem Gesicht. Mein Gott, sie hatte ein wunderschönes Gesicht, das von ihren rotgewellten Locken umspielt wurde. Fasziniert glitt ihr Blick über diesen fantastischen, makellosen Körper, den ihre Hände zaghaft erkundeten. »Das kann nicht sein …«, stammelte sie fassungslos.

Nach einer ausgiebigen Dusche öffnete sie den Kleiderschrank und eine halbe Stunde später war ihre gesamte Garderobe auf dem Bett ausgelegt – nichts wollte mehr passen.

An der Küchenbar ihren Kaffee trinkend überschlugen sich ihre Gedanken, allem voran die Frage: Hatte die Hexe das vollbracht? Wie anders konnte sie über Nacht an die sechzig Pfund verloren haben? Und dem nicht genug, ihre Haut war straff, allein das war unmöglich. Schelmisch linste sie auf die Zuckerdose. Wenn das alles tatsächlich real war und sich ihre Wünsche dank der Hexe erfüllt hatten, konnte sie auch mehr Zucker in den Kaffee geben, ohne sich dabei schuldig zu fühlen. Sie warf zwei Stück nach. Dann glitt sie in Gedanken zu jener Nacht zurück, in der Cassandra sie das erste Mal besucht hatte und sie besann sich des Paktes, dem sie laut deren Aussage zugestimmt hatte. Nur, was hieß das im Klartext? Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Aber was sollte sie sich diesbezüglich heute schon den Kopf zerbrechen? Heute würde sie sich neu einkleiden, und dann wollte sie noch bei einer Gärtnerei vorbeigehen und Pflanzen bestellen.

 

Eine halbe Stunde später lief Annabelle durch die Eingangshalle, wo Randy, der ältere Portier, der vorwiegend die Tagesschicht machte, sie ungläubig und leicht irritiert anschaute, doch außer einem »Guten Morgen, Mrs Scott«, brachte er nichts hervor. Beim Verlassen des Gebäudes begrüßte sie Alex, einer der Studenten, der sich eine Kleinigkeit dazu verdiente, indem er dafür sorgte, dass keine zwielichtigen Leute in das Gebäude kamen, zudem öffnete er den Gästen die Tür und rief falls nötig ein Taxi herbei. Auch Alex starrte sie fassungslos an. »Mrs Scott, sind Sie es wirklich?«

»Dasselbe habe ich mich heute Morgen gefragt.«

»Sie … Sie sehen … schlichtweg umwerfend aus!«

Sie bedankte sich verlegen.

»Ich rufe Ihnen sofort ein Taxi.«

Da sich Annabelle erst an den Stadtverkehr in London gewöhnen musste, blieb ihr Auto meist in der Tiefgarage stehen, zumal die Taxifahrer besser wussten, wo man was bekommen konnte, ohne dass sie stundenlang umherirren musste.

Am späten Nachmittag kehrte sie zufrieden zurück. Sie hatte an diesem Tag reichlich Geld ausgegeben und es hatte sich gelohnt. Ihre alten Kleider packte sie in Schachteln und verstaute diese in der Dachkammer auf der Galerie. Sie wegzugeben traute sie sich nicht, unter Umständen würde sie morgen aufwachen und feststellen, dass alles ein Traum und ihre Pfunde zurückgekehrt waren.

Und morgen früh würden die Pflanzen geliefert werden, die sie heute in der Gärtnerei bestellt hatte. Sie verstaute ihre neue Garderobe im Schrank und plumpste danach erschöpft und glücklich auf die Couch. Shoppen in dieser Julihitze ermüdete ungemein. Noch während sie sich all der Blicke besann, die ihr an diesem Tag zuteilgeworden waren, vor allem von der Männerwelt, schlief sie mit einem seligen Lächeln ein.

 

»Anny, … wach auf, du Schönheit.«

Eine raue und doch zärtliche Stimme drang in Annabelles Traumwelt. Sie öffnete langsam die Augen und schrie sogleich. Dicht vor ihr schwebte Cassandras runzliges Gesicht.

»Muss dieses Gekreische ständig sein?«, blaffte die.

»Würdest du es unterlassen, mich so zu erschrecken, müsste ich nicht schreien«, parierte sie und rieb sich die Augen. Draußen dämmerte es, sie musste eingeschlafen sein, nachdem … blitzartig schoss sie hoch und sah an sich herunter. Ihr Körper war makellos und schlank.

»Dachtest wohl, alles wäre bloß ein Traum gewesen. Komm, dreh dich mal herum.«

Sie folgte der Aufforderung und die Hexe gab einen zufriedenen Pfiff von sich. »Mannomann, du siehst umwerfend aus! Ich wusste es, dass sich hinter dem ganzen Fett eine Schönheit entfalten wird.«

»Du warst das?«

»Wer denn sonst?«, fragte die Alte pikiert.

»Und dir kam niemals der Gedanke, dass es ein klein wenig auffallen könnte, wenn ich über Nacht an die sechzig Pfund verliere?«

»Auffallen? Schätzchen, nicht in einer Großstadt wie London. Na ja, wenn du dir eine Bombe umbinden und dich mitten auf den Picadilly Circus stellen würdest, okay, das würde vermutlich auffallen.«

Schweigend goss sich Annabelle in der Küche Kaffee ein, dieser war wohl nicht mehr frisch, dennoch schön warm von der Heizplatte. »Möchtest du auch einen?«

Cassandra hatte sich derweil an die Küchenbar gesetzt. »Gern. Darf ich daraus entnehmen, dass du endlich akzeptiert hast, dass ich real bin?«

Annabelle holte eine weitere Tasse aus dem Schrank, stellte sie ihr hin, goss Kaffee ein und antwortete: »Sieh mich an, wie könnte ich da noch zweifeln?«

»Gefällt dir dein Körper etwa nicht?«

»Selbstverständlich gefällt er mir.« Verlegen blickte sie an sich herunter, dann lauschte sie dem Stöhnen der Hexe, welches die nach jedem Schluck von sich gab. »Mmh, der Kaffee ist köstlich, wenn auch abgestanden.« Sie streckte ihr die leere Tasse hin. »Kann ich einen Nachschlag haben?«

»Ja, ich lass gleich frischen durchlaufen.« Sie machte sich an der Maschine zu schaffen und fragte, als der Kaffee durch den Filter lief: »Gibt es dort, wo du herkommst, keinen Kaffee oder Weißwein?«

»Doch–doch, haben wir«, nuschelte die Alte unverständlich.

»Aber?«, hakte Annabelle nach.

»Er ist … kein Vergleich im Geschmack.«

Sie schenkte Cassandra frischen Kaffee nach, lehnte sich wieder an die Ablage und beobachtete weiter die Hexe, welche mit Entzücken und stöhnend Schluck für Schluck trank, bis die Tasse erneut leer war.

»Noch einen?«

»Nein, sonst kann ich nicht mehr schlafen.«

»Hast du keinen Zauberspruch, um dich in den Schlaf zu wiegen? Und wo ist überhaupt dein Zauberstab?«

Nun wirkte die Alte gekränkt. »Seh ich aus wie Harry Potter?«

»Nein … also … kein Zauberstab?«

»Nein, kein bescheuerter Zauberstab«, erwiderte sie mürrisch.

»Cassy, ich wollte mich auf keinen Fall lustig über dich machen. Was soll ich sagen, ich muss mich erst daran gewöhnen, eine echte Hexe vor mir zu haben«, versuchte sie zu beschwichtigen.

»Und eine Frau, denn mein Körper unterscheidet sich keineswegs von deinem, Anny.«

»Sieht man von deinem Alter ab«, entgegnete die.

»Kleines, auch du wirst mal alt und schrumpelig, dann wird dieser Traumkörper nur noch eine blasse Erinnerung sein. Und du kannst damit aufhören, mich zu beleidigen«, schob sie trotzig nach.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht taktlos erscheinen.«

Cassandra wischte ihre Worte mit der Hand weg. »Ist okay, ich erschrecke ja auch dauernd, wenn ich an einem Spiegel vorbeilaufe und hineingucke.«

 

Die beiden Frauen schauten sich stumm an. Cassandras Blick war peinlich lüstern, in Annabelles Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Unsicherheit, Neugier und Ratlosigkeit wider. Sie räusperte sich: »Ich nehme an, du bist heute nicht nur gekommen, um dir anzusehen, was du über Nacht erschaffen hast?«

»Exakt! Natürlich wollte ich mein Werk begutachten, und ich muss zugeben, ich bin äußerst zufrieden mit mir.« Mit hochgezogenen Brauen glitt ihr Blick gierig über Annabelles Körper, so dass die sagte: »Hör auf damit, ich fühle mich wie eine Kuh auf dem Viehmarkt.«

»Verzeihung. Ich kann mich nicht satt sehen. Und ich bin begierig darauf, in diesen Körper zu schlüpfen und mich ins Nachtleben zu stürzen.«

Jetzt riss ihr Gegenüber entsetzt die Augen auf. »Du willst was?«

»Du hast mich richtig verstanden. Und um dir auf die Sprünge zu helfen; das war die Abmachung! Schon vergessen?«

»Ich … es fällt mir schwer, mich an jene Nacht zu erinnern.«

»Das sagen sie alle«, Cassandra hob den Finger, »aber dir glaub ich’s.« Sie zückte einen Bogen Pergament. »Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen: Da hätten wir das Dahinscheiden deines Mannes …«, sie tippte auf das Pergament, »… erfüllt! Ein großzügiges Appartement, einschließlich des Rabatts, den ich dir in meiner ganzen Güte gewährt habe in Form des Startkapitals – erfüllt! Dann wäre die Traumfigur, mit dem Zusatz, alles essen zu können was dir beliebt – übrigens eine weise Entscheidung, daran denken die wenigsten …«, ihr Blick schob sich über den Rand des Pergaments und studierte das Kunstwerk, »… erfüllt! Und zu guter Letzt eine Karriere als Bestsellerautorin …«

Die Hexe legte das Pergament auf die Küchenbar und schaute Annabelle nachsichtig an. »Schätzchen, in die Tasten hauen musst du schon selbst, du hast die Gabe, also …«, sie tippte abermals auf das Pergament, »erfüllt!«

»Du meinst ich kann mich einfach an den Computer setzen und anfangen zu schreiben? Und es wird ein Erfolg?«

Nun rollte die Alte mit den Augen. »Du kannst auch Feder und Papier nehmen, mir doch egal. Und ja, jedes deiner Bücher wird ein Erfolg. Zweifelst du weiterhin an meinen Fähigkeiten?«

Kaum hörbar. »Ich denke nein.«

»Na dann, der Deal lautet, dass dein Körper für einen Tag die Woche, sprich vierundzwanzig Stunden, mir gehört. Außer«, sie hob beschwörend die Hand, »außer du hast noch mehr Träume, die ich dir erfüllen kann?«

Nun blickte Annabelle geistesabwesend durch die alte Hexe hindurch.

»Oh, verstehe, du kommst auf den Geschmack. Null Problemo, solange du nicht Präsidentin der Vereinigten Staaten werden willst, … obwohl«, sie neigte den Kopf zur Seite, »höchstwahrscheinlich würde ich das auch noch hinkriegen. Wäre zumindest eine reizvolle Herausforderung«, sinnierte sie und hielt sich einen Finger an die Lippen.

»Nein, ich habe keine Wünsche mehr, was könnte ich mir mehr erträumen?«

»Da gäbe es einiges. Zum Beispiel Schönheitskönigin? Einen Traummann? Eine Villa, oder ein Schloss mit Angestellten, oder …«

»Stopp! Cassy, ich habe alles was ich mir erträumt habe. Ich bin glücklich.«

Nun zog die Alte die Mundwinkel nach unten. »Sag mal, wurde dir die Bescheidenheit mit der Muttermilch eingeflößt, oder hat sie dir dein Mann eingeprügelt? Alle wollen sie mehr, sind sie erst auf den Geschmack gekommen!«

»Wer ist alle? Hast du noch mit anderen dein Spiel gespielt?«

Verlegen wandte sich Cassandra ab. »Ich lebe schon lang im Exil … doch darum geht’s hier nicht. Also, gibt es noch mehr unerfüllte Begehren?«

Im Annabelles Geist tauchte das Bild ihrer Mutter auf, augenblicklich wurde sie traurig, was der Hexe nicht entging.

»Ahh … da ist noch was!«

Und so berichtete sie von ihrer Mutter, und als sie geendet hatte, nickte Cassandra mitfühlend.

»Was würde es mich kosten, ich meine wie viele Stunden?«, fragte sie zaghaft.

»Du meinst, deinen Vater aus dem Weg zu räumen?«

Die Hand auf den Mund gepresst, starrte sie die Alte mit aufgerissenen Augen an.

»Schätzchen, nennen wir das Kind doch beim Namen. Du willst, dass ich auch deinen Vater in die Grube bringe.«

»Das … das ist Mord …?!«, stammelte Annabelle, worauf Cassandra energisch mit ihrem Zeigefinger hin und her wedelte. »Nana, ganz sachte. Mord ist ein sehr dehnbarer Begriff, und nur am Rande bemerkt, bei deinem Mann warst du auch nicht so zimperlich.«

»Da war ich noch ahnungslos, dass du real bist!«, argumentierte sie, jedoch klang es wenig überzeugend.

Die Hexe lachte auf. »Der war echt gut! Möchtest du mir ernsthaft weismachen, dass, wenn du gewusst hättest, dass deine Wünsche sich erfüllen würden, du den ersten Punkt auf deiner bescheidenen Liste weggelassen hättest? Mal ehrlich, das ist Bockmist, denn dann würde heute nämlich alles, was dich glücklich macht, nicht existieren, da du ohne die Beseitigung deines sadistischen Ehemanns nie und nimmer in diesem trauten Heim in London leben würdest.«

Betroffen schwieg ihr Gegenüber. Die Hexe nickte bestätigend und sprach ruhig weiter: »Und du wünschst deiner Mutter ebenso die Freiheit. Verständlich. Ich meine, allzu viele Jahre bleiben ihr ja nicht mehr, um dieses Leben zu genießen.«

 

Was nun folgte, war ein hin- und herschieben von Argumenten und ethischen Grundsätzen von Seiten Annabelles. Irgendwann klatschte die Alte in die Hände und meinte: »Kindchen, wir können diese äußerst ermüdende Diskussion stundenlang fortführen, Tatsache bleibt, dass deine geliebte Mutter ihn niemals freiwillig verlassen wird. War bei dir ja dasselbe? Fazit – möchtest du deiner Mom die Freiheit schenken, muss er …«, sie machte mit beiden Händen eine Schiebebewegung, »entsorgt werden! Ende der Diskussion.«

»Du bist grausam!«

»Ich bin grausam?«, empörte sich Cassandra. »Hab ich versucht, aus deiner Mutter herauszuprügeln, was ihre Tochter für dieses Appartement bezahlt hat?«

Nun schrie Annabelle entsetzt auf.

»Aber sie hat eisern geschwiegen. Sie liebt dich innig, Anny.« Und nach einer Pause: »Ich bin keinesfalls grausam. Okay, meine Wortwahl kann man nicht unbedingt als diplomatisch bezeichnen«, gestand sie ein und kramte eine alte Taschenuhr hervor, klappte sie auf und tippte auf das Ziffernblatt. »O-oh, schon so spät.« Sie nickte Annabelle zu, die an der Ablage lehnte und die leere Kaffeetasse in den Händen herumdrehte. »Brauchst dich ja nicht gleich zu entscheiden.« Und mit einem Lächeln merkte sie an: »Aber falls du deiner Mutter dieses Geschenk machen willst, verspreche ich dir, dass dein Vater nicht leiden wird.« Sie stand auf. »Wann fängst du an zu schreiben?«

»Schreiben?«, wiederholte sie irritiert.

Die Alte tippte mit den Fingern auf der Küchenbar herum. »Schreiben. In die Tasten hauen. Die Feder ins Tintenfass tauchen.«

»Ach so … Morgen?«

»Perfekt! Morgen ist Freitag, dann hätten wir noch diese Woche alle Punkte auf deiner Liste erfüllt und ich kann mir nächste Woche einen Tag Urlaub genehmigen.« Sie stupste mit dem Finger an Annabelles Schultern und raunte: »In diesem Traumkörper.«

Perplex öffnete Annabelle den Mund, ohne dass sie ein Wort herausbrachte.

»Hast du nächste Woche einen Tag, an dem du Verpflichtungen hast, ich mein, falls du zum Frauenarzt musst oder dergleichen, das kannst du dir gleich abschminken.«

»Nächste Woche … äh … nein, keine Termine.«

»Super! Dann nehme ich den Montag«, sie zwinkerte ihr zu, »ist eine Weile her, seit ich mir einen Urlaub und die damit verbundenen Freuden gönnen konnte. Sagen wir um neun am Morgen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten: »Dann bis Montag, bye-bye.«

Cassandra machte auf dem Absatz kehrt und schritt zur Terrassentür. Annabelle hob die Hand und wollte noch etwas sagen, was letztlich aus ihrer Kehle drang war nur ein Krächzen. Dann, ganz leise, sprach sie die Worte aus: »Und was geschieht mit mir in diesen vierundzwanzig Stunden?«

Die Hexe hörte es nicht mehr; sie war bereits verschwunden.

 

 

Das unnachgiebige Klingeln des Telefons riss Annabelle aus dem Schlaf. Randy teilte ihr mit, dass zwei Männer von der Gärtnerei soeben dabei wären, einen ganzen Dschungel aus ihrem Laster zu laden. Er wolle sich bloß vergewissern, dass sie all die Pflanzen bestellt habe. Die Pflanzenlieferung, die hatte sie komplett vergessen! Sie sagte ihm, er solle die Männer mit den Pflanzen nach oben schicken, huschte ins Bad, putzte rasch die Zähne, klatsche sich kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr kurz mit der Bürste durchs Haar. Auf dem Weg zur Tür fiel ihr auf, dass sie noch den Pyjama trug, sie rannte ins Schlafzimmer zurück, schlüpfte in den Trainer und rief, als es klopfte: »Eine Minute, bin gleich da!«

Unzählige Male liefen die Männer durch ihre Wohnung, um die Pflanzen auf die Dachterrasse zu bringen, unterdessen ließ Annabelle den Kaffee durchlaufen und erkundigte sich: »Wollen Sie auch einen Kaffee?«

»Nein danke. Tut mir leid, wir müssen weiter.«

Wieder allein, trank sie in aller Ruhe ihren Kaffee und fragte sich, wie sie diese Lieferung hatte vergessen können? Vermutlich, weil sie erst spät ins Bett kam und ihre Gedanken die halbe Nacht um Cassandra und den Montag kreisten. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen und war es möglicherweise ein Fehler gewesen? Wobei Fehler unzutreffend war, war sie vielmehr der List der Hexe erlegen. Und nein, sie empfand ihr neues Leben keineswegs als Fehler, das wurde ihr an diesem Morgen erneut bewusst, als die Männer der Gärtnerei sie anstrahlten, obschon sie ungeschminkt und gerade aus dem Bett gekommen war.

Später verteilte sie die Pflanzen in ihrem Appartement, spähte jedoch routinemäßig verstohlen zu ihrem Computer. Nach dem Mittag aß sie eine Kleinigkeit und begab sich anschließend mit einer überdimensionalen Tasse Kaffee und einem Teller voller Schokolade auf die Galerie. Dort stellte sie Tasse und Teller auf den Schreibtisch, platzierte beides drei Mal um und dachte bei sich: Wenn du schon eine kleine Ewigkeit brauchst, um dich zu entscheiden, wo du Kaffee und Schokolade haben möchtest, wie viel Zeit benötigst du dann, um ein Buch zu schreiben?

Zwanzig Minuten später fokussierte Annabelle gebannt den blinkenden Cursor unter den Worten Kapitel 1. »Läuft ja wie geschmiert«, murmelte sie und genehmigte sich ein weiteres Stück Schokolade. Hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte den Computer hochfahren und ihre Finger würden wie von Zauberhand geführt über die Tasten flitzen? Was sprach dagegen? Wenn man über Nacht an die sechzig Pfund verschwinden lassen kann?

Sie nahm das nächste Stück Schokolade, tunkte es in den Kaffee und lutschte es genüsslich ab. »Also, Annabelle Scott«, sprach sie, »welche Geschichte möchtest du erzählen? Solange es nicht deine eigene ist.«

Auf einmal offenbarte sich ihr die Hauptfigur, wie diese lebte und wie sich dieses Leben anfühlte, und dann tat sich Szene um Szene in ihrem Geist auf, bis sie schließlich vollkommen im Leben ihrer Figur eingetaucht war und dieses Leben (er)-lebte.

Stunden später beendete sie Kapitel drei, lehnte sich zufrieden im Bürostuhl zurück, nahm den letzten, längst kalten Schluck Kaffee und schielte auf die Uhr am Computer. Es war schon nach sechs, sie hatte vollkommen die Zeit vergessen. Doch was spielte das für eine Rolle, sie fühlte sich fantastisch.

 

Übers Wochenende arbeitete Annabelle am Morgen auf der Dachterrasse und tauchte am Nachmittag in ihre Geschichte ein. Was gab es Schöneres, sie konnte ihre Fantasien ausleben, ohne Angst vor Konsequenzen zu haben. Alles war erlaubt, niemand setzte ihr Grenzen, keine Regeln mussten befolgt werden, sie konnte sich, frei von jeglichen Fesseln, treiben lassen. Annabelle Scott konnte sich nicht erinnern, wann sie ihr Leben je so intensiv wahrgenommen hatte wie in diesen Tagen. Nichts, das sie vermisste, nichts, vor dem sie sich fürchtete … außer vielleicht vor dem Montag. Und kam ihr dieser Gedanke, schob sie ihn just beiseite.

Am Sonntagabend wurde sie dann abrupt vom Telefon aus ihrer Welt gerissen. Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es nach sieben war. Sie eilte die Treppe herunter und bemerkte nebenbei ein Knurren im Magen. Wer konnte es ihm verdenken, hatte sie den ganzen Tag über lediglich ein Sandwich gegessen. Sie hob den Hörer ab und meldete sich.

»Anny? Weshalb atmest du so schwer?«, drang die besorgte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Du wolltest doch heute Nachmittag anrufen? Ist etwas geschehen?«

Das Keifen ihres Vaters war zu hören: »Verdammt, Weib, natürlich geht es ihr gut. Deine Tochter hat es nicht mehr nötig, mit uns zu sprechen, hält sich jetzt für was Besseres! Und hör endlich auf herumzuwinseln!« Dann wiederholte ihr Vater in affektiertem Tonfall: »Geht es dir auch gut? O Gott, ist etwas geschehen?« Danach knallte eine Tür zu und ein Seufzer drang an Annabelles Ohr, die fragte: »Ist er weg?«

»Ja«, antwortete Lisa flüsternd. »Wie geht es dir?«

Begeistert schilderte sie ihrer Mutter, was sie die letzten Tage gemacht hatte. Sie konnte die aufrichtige Freude hören, als sie antwortete: »Das ist ja wunderbar! Erinnerst du dich, du warst fünf oder sechs Jahre alt und hast dir laufend neue Geschichten ausgedacht. Du hattest so viel Fantasie.«

Annabelle erinnerte sich, auch daran, dass ihr Vater diese Geschichten als ein schwachsinniges Geplapper eines Kleinkindes abgetan hatte. Und sie musste sich schon damals anhören, dass die Aufgabe einer Frau einzig darin bestand, zu heiraten, dem Mann Kinder zu gebären und für sein Heim zu sorgen, da das weibliche Geschlecht kaum zu mehr tauge. Schlagartig erkannte sie, wie sehr sie ihren Vater verachtete. Gab es irgendetwas, das sie an diesem Mann liebte? Abgesehen davon, dass er ihr biologisch gesehen das Leben geschenkt hatte? Es fiel ihr nichts ein.

»Anny, bist du noch dran?«

»Ja, ja ich … Wie geht es dir, Mom?«

»Bei mir ist alles in Ordnung, danke.« Die Antwort kam zu schnell.

»Und wie geht es dir wirklich?«, hakte sie nach.

»Mach dir um mich keine Sorgen, Liebes, ich komme zurecht.«

»Ich sorge mich aber um dich. Komm mich doch für ein Wochenende besuchen.«

»Das geht nicht, Anny, ich …«

Im Hintergrund war abermals Henrys Gezeter zu hören: »Krieg ich heute noch ein Bier oder willst du die ganze Nacht an der Strippe hängen?«

»Ich muss auflegen«, sagte Lisa gequält. »Pass auf dich auf.« Es klickte in der Leitung. Betrübt legte Annabelle den Hörer auf und begab sich in die Küche. Sie hatte keinen Hunger mehr. Um ihren knurrenden Magen zu besänftigen, löffelte sie im Stehen ein Joghurt und setzte sich dann auf die Terrasse.

 

Annabelle Scott fühlte sich hin- und hergerissen. Seit sie aus dieser Hölle von Ehe befreit war, war es für sie unerträglich, was ihre Mutter tagtäglich durchmachen musste. Nie zuvor waren sie sich so nahe gekommen wie in den letzten Wochen. So sehr wünschte sie sich, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können – ohne ihren Vater. Sie dachte an Cassandra und die Diskussion, die sie am Donnerstagabend geführt hatten und dieser Gedanke führte sie unweigerlich zu einem anderen: Mein Gott, morgen würde die Hexe kommen, um ihre Schuld einzufordern. In den letzten Tagen hatte sie sämtliche Gedanken daran erfolgreich verdrängt, aber nun bahnten sie sich erbarmungslos ihren Weg zurück. Nur, was machte es für einen Sinn, sich ihnen hinzugeben? Absolut keinen, außer, dass es ihr wahrscheinlich eine schlaflose Nacht bescheren würde.

Gegen zehn zog sie ihren Pyjama an, dabei erhaschte sie ihr Spiegelbild im Schrankspiegel und stellte sich davor. Das war ihr Körper, und dieser würde morgen für vierundzwanzig Stunden den Besitzer wechseln. Ein Frösteln erfasste sie. Im Ungewissen zu sein, was sie in diesen Stunden tun, oder wo sie sein würde, war eine Sache, zugegeben keine schöne. Hingegen nicht zu wissen, was die Alte alles mit ihrem Körper in den vierundzwanzig Stunden anstellte, war eine ganz andere, zweifellos unschöne Angelegenheit. Sie musste morgen früh unbedingt ein paar Punkte mit der Hexe klären, bevor sie von der Bildfläche verschwinden würde. Was heißt verschwinden?

»Annabelle Scott, jetzt hör auf dich wahnsinnig zu machen!«, sprach sie zu ihrem Spiegelbild, das ihr kopfnickend beipflichtete. Nichtsdestotrotz kreisten ihre Gedanken weiter unkontrolliert im Kopf herum. Und so nahm seit langem wieder ein Valium. Eine Stunde später schlief sie ein und ihr letzter Gedanke galt nicht dem morgigen Tag, sondern ihrer Mutter.

 

 

Das Piepsen des Weckers zog Annabelle sanft aus dem Schlaf, sie öffnete die Augen und da war bloß ein Gedanke: Heute übernimmt die Hexe meinen Körper!

Zwanzig Minuten später trat sie im Bademantel und mit einem Frotteetuch um den Kopf aus dem Bad. Aus dem Wohnzimmer hörte sie fröhliches Gekicher. Cassandra hockte vor einer Tasse Kaffee an der Küchenbar und las die Manuskriptseiten, die Annabelle am Abend zuvor ausgedruckt hatte. Jetzt blickte sie auf: »Morgen, Anny. Wie nett, du hast schon geduscht und sogar dein Haar gewaschen, willst deinen Körper wohl in tadellosem Zustand abgeben.«

»Und genauso möchte ich ihn morgen in Empfang nehmen«, erwiderte sie leicht garstig.

»Schätzchen, mach nicht gleich einen auf Panik. Ich werde ihm garantiert Sorge tragen, er ist ja eine unschätzbare Kapitalanlage und gehört jetzt auch mir – zu einem kleinen Prozentsatz.« Sie stand auf und schenkte Annabelle Kaffee ein. Die dankte ihr und setzte sich auf den Barhocker. »Du hast mein Manuskript gelesen?«

»Nur die ersten Seiten, lesen ist nicht so mein Ding. Es ist lustig. Erzähl mir davon.«

Geschmeichelt fing sie an zu erzählen: »Es handelt von einer Hausfrau, die sich in ihrem tristen Dasein von einer Katastrophe zur anderen hangelt. Dann scheint ihr Leben vollkommen unter ihr zusammenzubrechen, als ihr Mann sie mit den drei Kindern sitzen lässt. Da sie von den Alimenten kaum leben kann, zieht ihre Mutter bei ihr ein und ermutigt sie, ihren Traum wahrzumachen …«

»Sie möchte ein weiblicher Sherlock Holmes werden«, ergänzte die Hexe.

»Richtig. Sie belegt ein Fernstudium und erhält ihren Ausweis. Danach löst sie so manchen verzwickten Fall.«

»Mit viel Humor, vermute ich. Und ihre herablassende Art dem männlichen Geschlecht gegenüber gefällt mir!«

»Die Geschichte ist sicher ein alter Hut«, sprach die ihre Zweifel aus.

»Das ist schnurzegal, sie hat Witz, Spannung und fesselt von der ersten Zeile an, Anny.«

Die nickte dankbar und schaute grübelnd in ihren Kaffee, dann schielte sie zur Küchenuhr und fragte: »Cassy, was wird nachher mit mir geschehen?«

»Lass dich überraschen.«

»Und was wirst du bis morgen unternehmen?«

Die Alte runzelte die Stirn. »Das ist jetzt eine sehr indiskrete Frage.«

»Nein, wenn man bedenkt, dass du meinen Körper … benutzt?«

»Dem wird kein Haar gekrümmt. Versprochen.« Sie kniff die Augen zusammen und wollte wissen: »Du nimmst sicherlich die Pille?«

»Nein?! Du wirst … nein … das tust du nicht, oder?«

»Na hör mal, ich lass mir die fleischliche Lust doch nicht entgehen, das Sahnehäubchen auf der Torte sozusagen.«

Daraufhin stieß Annabelle angewidert aus: »Das ist ja ekelhaft!«

»Weil du mit ziemlicher Sicherheit noch keinen Orgasmus hattest, ist das noch lange nicht ekelhaft. Das ist womöglich die schönste Sache der Welt.« Sie neigte den Kopf zur Seite und relativierte: »Jedenfalls die lustvollste.«

»Du kannst nicht einfach Männer abschleppen und mit ihnen Sex haben!?«

»Stimmt, mit diesem Körper ist das unwahrscheinlich. Aber dieser Körper«, gurrte sie und zeichnete mit den Händen Annabelles Kurven nach, »wird die Männer zu Wachs in meinen Händen werden lassen.«

Annabelles Augen wurden stetig größer und die Alte winkte ab. »Krieg dich wieder ein. Wie gesagt, ich werde deinem Körper keinen Schaden zufügen. Und ich mach’s nur mit Gummi, ist heutzutage auch ratsam.« Sie hob den Finger. »Hast du wenigstens Kondome im Haus?«

»Nein!«, entrüstete sie sich, was die Hexe unbeeindruckt ließ.

»Okay, dann besorg ich halt welche.«

Niedergeschlagen sank Annabelles Kopf auf die Bar, dann erhob sie sich und sagte mit fester Stimme: »Auf gar keinen Fall hier in meinem Appartement, und unter keinen Umständen in meinem Bett!«

»Versteh ich.« Cassandras Brauen schoben sich nach oben. »Und Herrenbesuche ohne Beischlaf?«

»Unterstehe dich! Und du wirst weder jemandem die Haustür öffnen noch das Telefon abnehmen.«

»Mannomann, du bist eine harte Verhandlungspartnerin. Gefällt mir. So soll es sein.« Sie linste auf die Küchenuhr und klatschte in die Hände. »Na los, zieh dich an. Husch-husch. Du hast noch genau sechzehn Minuten.«

Annabelle stand auf, ging Richtung Schlafzimmer und vernahm erneut Cassandra: »Und Anny, könntest du dir die Haare machen, sieht immer so hübsch aus, wenn du sie frisiert hast.« Die bedachte die Hexe mit einem giftigen Blick und verschwand.

Cassandra murmelte: »Mann, sind wir heute zickig.«

 

Als sie sich angezogen hatte, verwuschelte sie im Bad ihr Haar und stapfte trotzig ins Wohnzimmer zurück, wo Cassandra sie ausgiebig beäugte, bevor sie sagte: »Das war anders gemeint, das ist doch eine einigermaßen spezielle Frisur.«

Annabelle war wütend, weniger auf die Hexe, vielmehr auf sich, denn sie war es gewesen, die sich letztendlich in diese Situation gebracht hatte, wenngleich unbewusst. Und sie war es nicht gewohnt, ihre Wut zuzulassen. Darüber hinaus war sie zutiefst verunsichert. Folglich verschränkte sie demonstrativ die Arme vor der Brust. »Was jetzt?«

Cassandra stieg vom Barhocker und legte ihr die knorrige Hand auf die Schulter. »Jetzt gebe ich dich in die Obhut meiner Freundin. Eine ungemein liebenswerte Person, nun ja, wenn sie aufgetaut ist. Und dann werde ich …«, ein kurzer Seitenblick, »das willst du nicht hören. Schließ die Augen und bitte, lass sie geschlossen, sonst wird dir übel und wir wollen ja vermeiden, dass dir der Kaffee hochkommt.«

Annabelle zögerte.

»Na mach schon, das ist meine Zeit, die du vertrödelst!«

Ihre Augen geschlossen, wurde sie sogleich von einem Sog ergriffen, der ihren Körper heftig herumwirbelte. Verzweifelt wollte sie sich irgendwo festhalten, und griff ins Leere. Sie fing an aus Leibeskräften zu schreien und im nächsten Moment hatte sie wieder festen Boden unter den Füssen und hörte eine ihr fremde Stimme, die noch lauter schrie als sie: »Verflucht, Cassy, stell sofort dieses Geschrei ab!«

Flink presste sich eine Hand auf Annabelles Mund und sie verstummte. In der darauffolgenden Stille drangen Cassandras Worte dicht an ihrem Ohr: »Schsch …, der erste Eindruck ist bei Mimi entscheidend.«  Sie nahm die Hand von ihrem Mund und schob dann nüchtern nach: »Und den hast du soeben verspielt.«

 


Aus dem Buch:

Amazon Kindle e-Book

Taschenbuch ISBN 978-3-754141-65-6 

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