von: Edition Converso
29. Dezember 2022

Buchtipp: „Papierschiffchen in der Wüste“ von Ayşegül Çelik

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„Als ich den Stift zur Hand nahm, sprang mich ihr Leid mächtig an. Jesidische Kelims bringen heute Millionen, aber wo sind die Jesiden?“

Mit sensibler Empathie und Sympathie widmet sich Ayşegül Çelik in diesem „Roman in Erzählungen“ der Unterdrückung der Jesidinnen und Jesiden: Sie schreibt von Vertreibung, Unterdrückung und Versklavung, doch eher hintergründig, beinahe beiläufig. Und sie thematisiert die Abkapselung der Gemeinschaft, man bleibt unter sich, heiratet untereinander und übt die Religion im Verborgenen aus (dies darf allerdings als Resultat der Verfolgung gelten). In einem lesenswerten Nachwort erläutert die preisgekrönte Übersetzerin Sabine Adatepe der Leserschaft einige Hintergründe.

Celiks Erzählungen haben etwas Märchenhaftes, spielen mit Elementen der jesidischen Mythologie. Und sie machen Mädchen und Frauen, jesidische wie christliche, zu ihren Protagonistinnen. Im Vordergrund steht ihre Selbstermächtigung: Es sind Frauen, die sich aus Unterdrückung und Bevormundung befreien, auf ihre je eigene Weise, wobei gerade der Poesie der Geschichten ein utopisches Potenzial innewohnt.

Da ist zum Beispiel die Geschichte von Yildiz, die mit nur zwölf Jahren, in die Schwiegerfamilie gebracht, gewissermaßen um ihr Leben webt. Als sie einem Pfau auf einem Wandteppich einen Partner beigibt, öffnet er die Augen (Melek Taus, der „Engel Pfau“ steht im Zentrum der jesidischen Religion). Die strenge Moral der fremden Familie verbietet ein solches Motiv, man schneidet es aus dem Teppich. Da fliegen die Vögel auf und davon.

„Und so sind ihre ‚Märchen‘ ein Plädoyer für Emanzipation, für die Befreiung von jenen, die uns ein Leben vorschreiben wollen, ein nicht aus dem Herzen heraus gelebtes ‚fremdes‘ Leben, und sie zeichnen, speziell in den beiden letzten Geschichten, eine lebenswerte Utopie. Papierschiffchen in der Wüste ist ein hochpoetisches kleines Werk, das geeignet ist, auch Menschen anderer Kulturkreise, die gerade durch die Wüste reiten, einen Weg zu weisen.“

Sabine Adatepe, Nachwort zu „Papierschiffchen in der Wüste“

 

Ayşegül Çelik, 1968 in Ankara geboren, schloss ein Studium der Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften mit einer sozialanthropologischen Arbeit ab und absolvierte ein weiteres der Theaterwissenschaften ebenfalls in Ankara.

Früh erschienen ihre Erzählungen, Artikel, Interviews wie auch Lyrik in renommierten Literaturzeitschriften.

Ihre erste Buchpublikation war der Lyrikband Sensizkaradenizdüşleri (1997, Schwarzmeerträumeohnedich), es folgten vier Erzählbände, zuletzt Kağıt Gemiler (2010, Schiffe aus Papier), und zahlreiche Beiträge in Anthologien.

Sie schrieb für Film und Fernsehen, ihre Hörspiele wurden mehrfach von der öffentlichen Rundfunkanstalt TRT ausgezeichnet. Ihre Adaption eines türkischen Klassikers von Hüseyin Rahmi Gürpınar wurde landesweit aufgeführt, für die Oper Arda Boyları schrieb sie das Libretto. Am Staatlichen Konservatorium der Universität Ankara lehrte sie Mythologie und Weltliteratur.

2013 gab sie die Anthologie Alis Harikalar Diyar’ından Tüymüş (Alice floh aus dem Wunderland) mit humorvollen Geschichten über sich emanzipierende Frauen heraus.

Im selben Jahr erschien ihre Romanbiographie des bedeutenden türkischen Theater- und Filmkünstlers Muhsin Ertuğrul, Ölmeyi Bilen Adam Muhsin Ertuğrul (2013, Der Mann, der sich aufs Sterben verstand).

Nach langen Jahren als Beamtin in Ankara nutzte sie die Gelegenheit der Frühverrentung und zog auf die Halbinsel Datça, wo Mittelmeer und Ägäis zusammenfließen. Dort ist sie als Kunsthandwerkerin im eigenen Atelier mit Glas-, Bronze- und Kupferarbeiten beschäftigt und befasst sich auch weiterhin mit Literatur und Theatergeschichte.

Ihre große Leidenschaft gilt dem Einsatz für Entrechtete und Unterdrückte. So engagiert sie sich für Tierrechte und kümmert sich im Rahmen einer kleinen Aktivist:innengruppe um leidende Tiere vor Ort.

Aus demselben empathischen Impetus heraus hat sie im vorliegenden Erzählband die Unterdrückung der Jesiden thematisiert: „Ihr Leid war es, das sprach, als ich den Stift zur Hand nahm. Ich fühle mich unmittelbar mit ihrem Leid verbunden. Von Menschenhand zugefügtes Leid ist so furchtbar, ich spüre oft, wie stark es ist. Jesidische Kelims bringen heute Millionen, aber wo sind die Jesiden?“

Auszeichnungen:

2008    Literaturförderpreis Notre Dame de Sion
2010    Yunus-Nadi-Erzählpreis

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