von: Urs Bugmann
1. Februar 2015
© Buchcover Edition Nautilus
Im Film würde man es eine Totale nennen, die Einstellung, die eine Landschaft in den schweifenden Blick nimmt, mit der Flavio Steimann seinen Roman «Bajass» beginnen lässt. Aber kaum ist das Gelände in dieser Totale mit einem einzigen Satz umrissen, die Spur eines blutigen Geschehens mit einem zweiten benannt, wechselt die Sicht ins Nahe, gibt die Sprache dem Protagonisten Gestalt, dem die Geschichte als einem nahen Beobachter gegenwärtig wird, der sie an unserer Stelle durchlebt und erfährt.
Gauch heißt dieser Protagonist, er ist ein müde gewordener Polizeiermittler, der den Menschen, aus denen er Fakten und Gründe, Taten und Motive herausbringen will, an Seltsamkeit und schweigsamer Verstocktheit wenig nachsteht. Er lässt sich genauso wenig entlocken, und noch dem Erzähler dieses Romans scheint er nicht ganz fassbar, nicht ganz deutbar zu sein: «Gauch, dem das Alleinsein vielleicht das Liebste war», heißt es einmal in dem Buch. Aber dieses Vielleicht kann auch ein Zeichen sein, dass dieser Polizeiermittler sich selbst nicht ganz kennt, dass er sich mehr und mehr abhanden kommt, je mehr er über jene herausfinden soll, die als Täter hinter dem stehen, was ihn in seinem Alltag beschäftigt. Nahsicht und Fernsicht verschieben und vertauschen sich: Gauch sieht sich aus der Ferne, je näher er dem Geschehen kommt, das er untersucht. Bald hat es mit solchen Nahsichten auf das Fremde und Ferne ein Ende: Gauch steht kurz vor dem Ruhenstand – da will er endlich zu sich kommen.
Wo ein Ermittler am Werk ist, den sich Flavio Steimann übrigens einen Kommissar oder gar wie bei Dürrenmatt einen ins Gemütliche umgelauteten Kommissär zu nennen hütet, haben wir es offensichtlich mit einem Kriminalfall zu tun. Also ist dieses Buch hier ein Krimi? Weit gefehlt: Es geht nicht – zumindest nicht in erster Linie – um die Aufklärung eines Verbrechens. Eher noch darum, zu zeigen, wie selbst ein aufgeklärtes Verbrechen die wahren Beweggründe, die wirklichen Tatsachen weiterhin hartnäckig verschweigt und verbirgt.
Der Polizeiermittler Gauch verdeckt uns immer wieder die Fernsicht, die ordnende Schau aus der Totalen der ganzen Leinwand auf das Verbrechen, das am Anfang dieses Buches kurz benannt wird. Denn diese Kriminalgeschichte ist aus der Nähe besehen ein Porträt, Gauchs Porträt. Das Verbrechen wirft seine Lichter und Schlagschatten auf den Ermittler, wie er mit dem Fall umgeht, verleiht seinem Gesicht Kontur.
Ein kauziger Ermittler, ein merkwürdiger Fall: Es bleibt hier viel im Angedeuteten und sogar im Unausgesprochenen. Das lohnt eine Nahsicht auf den Text, ein genaues Hinhören. Flavio Steimann ist ein sparsamer Erzähler. Seine Worte und Sätze misst er knapp und präzise ab. Da ist kein Wort zu viel, und in den Zwischenräumen öffnen sich Echokammern voll untergründiger Bedeutungen, voller Abgründe auch. Da ist keine Sprachflut, keine Bilderfülle, die alle Nuancen und Zwischentöne überdeckt. Da sind gerade in dieser kargen und spröden Beschränkung die feinsten Lineaturen, die flüchtigsten Atmosphären. Nicht, dass hier Überflüssiges weggeschlagen worden wäre, bis sich die Gestalten zeigen. Im Gegenteil: das genaue Anschlagen eines Tons lässt die bislang stummen Gestalten und unausgesprochenes Geschehen sich entfalten und ausschwingen ins Wirkliche.
Deshalb ist dieser Roman kein historisches oder historisierendes Buch: Es meint mit seiner Fernsicht auf eine vergangene Zeit die Nahsicht auf die Gegenwart. Nicht den Fall, der sich womöglich tatsächlich ereignet hat, sondern das, was er auslöst, woran die Menschen, die in dieser Geschichte als Handelnde, als Erleidende kenntlich werden, leiden, was ihnen widerfährt, wogegen sie aufbegehren, das spielt hier die Hauptrolle. Dass wir dabei etwas erfahren über jene lang vergangene Zeit des Umbruchs mit ihrer Not, mit ihrem Willen zu Aus- und Aufbruch, das ist im Grunde nur die Nebenwirkung. Die Kernwirkung, wenn Sie so wollen, das Heilsame ist, dass wir über einem solchen Buch hellhörig und hellsichtig werden auf die Unterströme des leicht zu Überhörenden und des kaum noch Sichtbaren. Die Geschichte, die uns Flavio Steimann in «Bajass» erzählt, ist für diese Schulung der Wahrnehmung und für die Schärfung unserer Aufmerksamkeit nur ein – wenn auch packendes und mit seiner Spannung mitreißendes – Vehikel.
Dieses Vehikel verdient und lohnt durchaus unsere Aufmerksamkeit. Es lohnt aber, nicht nur das Äußere dieses Vehikels anzustaunen, sondern auch auf seine unter der Oberfläche verborgene Art zu achten, wie es gebaut ist – und was es transportiert, was in seinem Innern verborgen liegt. Mit diesem Buch ist es wie mit unserer Ausstellung: jede Fernsicht zielt auf die Nahsicht.
Urs Bugmann, ist Literaturvermittler und wirkte lange Zeit als Literaturkritiker für die Neue Luzerner Zeituung
Das Buch: Flavio Steimann: „Bajass“, Roman, Edition Nautilus