von: H. S. Eglund
29. November 2020

Brecht und Weigel: Vom Umgang mit den Welträtseln

Ein Haus in Buckow: Frau Carrar, Mutter Courage, Galilei und Arturo Ui sind gerade abwesend, vermutlich in den Pilzen unterwegs. Seeräuber-Jenny sitzt an der Kasse (leicht ergraut) und Mackie Messer fegt den Hof. Hier wird klar: Im Grunde genommen hat sich kaum etwas verändert.

Das Brecht-Weigel-Haus liegt rund eine Autostunde östlich von Berlin. © HS Eglund

Karg ist die Landschaft, herbstbraune Felder mit eingestreuten Hainen; Flachland ohne Hügel, nur gelegentlich von rotbunten Wäldern durchbrochen. Eine Stunde östlich von Berlin liegt Buckow, mitten im Schutzgebiet der Märkischen Schweiz. Hier haben eiszeitliche Gletscher das Terrain plattgewalzt, von Berlin bis zur Oder blinken klare Seen wie hingestreute Splitter aus Quarz.

Im Herbst fegt ein steifer Wind über den Schermützelsee, kräuselt seine Oberfläche, rauht sie auf wie Sand, der Widerschein der tiefen Wolken färbt das Wasser grau. Es ist Mitte Oktober, vor dem jüngsten Lockdown, vor dem Lockdown ist nach dem Lockdown, irgendwann wird das Brecht-Weigel-Haus wieder seine Pforten öffnen. Und dann, Leute: Nichts wie hin!

Ein Linker, aus der Mode gekommen?

Dreißig Jahre nach Deutschlands Wiedervereinigung scheint Brecht aus der Mode gekommen. War ja Marxist, Dialektiker, der Mann. Hat an die Arbeiterklasse geglaubt, ans Proletariat (obwohl: nach dem Krieg nicht mehr wirklich), war im Exil in den USA und kehrte nach Ostberlin zurück. Hat auf‘s falsche Pferd gesetzt, wie viele heute meinen, und ist somit Schnee von gestern.

Im Auto sitzen zwei Generationen: Eglund (Mitte fünfzig) und der Nachgeborene (sechzehn). Als Eglund sechzehn war, stand Bertolt Brecht auf dem Lehrplan der weiterführenden Schulen. „Leben des Galilei“ oder das „Friedenslied“ oder seine Warnung vor dem Kalten Krieg, der Anfang der 1950er Jahre in einen heißen umzuschlagen droht, im fernen Korea schon heiß wurde:

Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.

Brecht als Schulstoff, das schreckte die DDR-Jugend ab. Es wirkte staatstragend, so doktrinär. Es passte geschmeidig in die Propaganda, schmeckte genauso fad und aufgesetzt. Dieser Eindruck änderte sich mit „Leben des Galilei“, quasi historisches Vorspiel zu Dürrenmatts „Die Physiker“ oder „In der Sache Robert J. Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt.

Nicht Revoluzzer, nicht Reaktionär

Damit wurde erstmals dieser innere Zwiespalt auf die Bühne gebracht: Tiefgreifende Konflikte eines Wissenschaftlers, der die Wahrheit sucht – „und sie bewegt sich doch!“ Letztlich beugt sich Galilei der Inquisition, schwört der Erkenntnis ab, will weder Revoluzzer noch Reaktionär sein. Er bleibt ein Mensch, der Angst vor Folter und Märtyrertod hat, und gerade deshalb der Wahrheit ein Türchen offen hält: Wenn die Zeit reif ist, entlarvt sich die Lüge von selbst.

Ende der 1980er Jahre war die Zeit reif, den staatstragenden Lügen ein Ende zu bereiten. War es Zufall, dass Brecht während des Wendeherbstes 1989 plötzlich auf frechen Postern und in befreiten – befreienden – Reden erschien – auf neue Weise? Dass sich die DDR-Jugend plötzlich an Brecht erinnerte? Damals war ein Gedicht seiner „Buckower Elegien“ in aller Munde:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
liess der Sekretär des Schriftstellerverbands
in der Stalinallee Flugblätter verteilen
auf denen zu lesen war, dass das Volk
das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
nicht doch einfacher, die Regierung
löste das Volk auf und
wählte ein anderes?

Den vollständigen Artikel lesen Sie im Literaturblog von H.S. Eglund.