von: Urs Heinz Aerni
1. Januar 2014
© uha
Er schaut über den Bach und sieht die Fortsetzung des Weges. Da liegt ein flacher schöner Stein. Wie gemacht für seine Absicht in seiner trittsicheren Manier. Er entscheidet sich und setzt seinen rechten Fuß auf. Der Stein hält. Doch mit der schleimigen Oberfläche hat er nicht gerechnet. Zeitlupe:
Der Fuß gleitet ab, der Mann rudert mit beiden Armen in der Bergluft, verliert sein Gleichgewicht und seine Würde. Der Rucksack schwebt samt seinem Träger und folgt ihm stur ins kalte Bergwasser, um es hochschießen zu lassen. Die Gräser an den beiden Ufern werden bewässert, als er in seiner vollen Länge aufplatscht und liegen bleibt. Die Kälte nimmt ihm den Atem.
Der Minibarmann holt ihn zurück, ins Zugsabteil. Der Zug ließ Zürich und Lenzburg hinter sich. Nein er will nichts und sie scheppert weiter, die Minibar. Er muss lächeln, in seinen Erinnerungsgedanken, wie er sich damals im Bach am Julier oberhalb von Bivio, sofort um sich blickte und froh darüber war, dass niemand seinen Sturz und ihn nun so liegen sah.
Basel. Umsteigen. Früher ging alles unterirdisch zu den Gleisen. Heute wird der ganze Passagierstrom vor den Rolltreppen gestaut. Bahnhofsarchitekten fahren eben selten mit der Eisenbahn. Er nimmt Platz, im neuen Zug, im neuen Abteil, schräg gegenüber einem Herrn in Pullover und Jeans. Dieser blättert wichtig in einer Bild-Zeitung. Er hätte auch was zum Lesen mit, zwei Zeitungen, ein Magazin und vier Bücher. Er bleibt beim Denken, denkt an eine Lokomotive im Bahnhof Basel, die vor Jahren dergestalt Werbung machte, dass sie im vorbeifahrenden Zug eine Heiterkeit auslöste. Auf der Lok stand geschrieben: „Ganz nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“
Basel Badischer Bahnhof. Der Pullover-Herr blättert jetzt in einem Gratisblättchen, die Türe öffnet sich und ein Bürstenschnittmann fragt mit englischem Beiklang, ob wir Deutsch reden. Wir grinsen und bejahen. Er lacht auch und meint es natürlich andersrum. Der Bürstenschnitt und seine ebenfalls männliche Begleitung nehmen Platz. Der Kollege setzt sich gegenüber ans Fenster, trägt dunkles Hemd mit blaugemusterter Krawatte, fixiert wortlos die Landschaft, Kopfhörer trennen die Innen- und Außenwelt, ständig drehen sich seine Daumen, als würden sie sich gegenseitig hinterher jagen. Türe geht auf, eine junge Frau bietet Zeitungen an, der Pullover verlangt wieder eine Bild, die anderen beiden schweigen.
Er auch.
Ist seit Bivio alles anders in seinem Kopf? Seit dem Gespräch mit dem Hotelier und mit dem Vizegemeindepräsident? Oder seit dem Abendessen mit dem Basler Ehepaar, das eine Website für Bivio-Fans anpries? Oder war es vorher, damals als er auf Einladung ein öffentliches Gespräch mit einem Drehbuchautor führte, über den Film um einen nahe gelegenen Stausee und die seltsamen Geschichten drum herum. Während des Anlasses knallte eine Deckenlampe aus der Halterung und blieb am Kabel hängen. Na ja, davon ist heute noch im Dorfe die Rede.
Er wird im Denken wieder gestört, man fragt ihn, ob er trinken oder essen wolle und ein neues Bahnpersonalgesicht will den Fahrschein sehen. Er antwortet ihr und rückt ihm den Zettel raus. Jetzt ist wieder Ruhe. Der Bürstenschnitt liest nun in einem Taschenbuch, er versucht den Titel zu erkennen, erfolglos. Egal.
Bald ist er in Freiburg, er erinnert sich aber an Fribourg. Ein Freund und er packten die Sachen ins Auto, vor Jahren im Winter. Er war bei diesem Freund, den er heute aus den Augen verloren hat, zu Besuch. Sie haben sich entschlossen, mit anderen Leuten Ski-Urlaub zu verbringen. Alles wurde eingepackt außer den Skischuhen seines Freundes. Bemerkt wurde es erst in Bivio … oder war das irgendwo in den französischen Alpen? Egal. Geblieben ist die Erinnerung an das Szenario mit Fluchen und Lachen.
Der Zug tunnelt durch einen Berg. Er sieht die Zeitung vor sich liegen, liest Überschriften, die Berichte über Kirchenskandale ankünden, dass Steinmeier die Schwarz-Gelb-Regierung als einen „schrecklicher Irrtum“ bezeichnet und dass auf Seite 33 Iris Berben und Bruno Ganz über ihre Arbeit erzählen. Er lässt sie liegen, die Zeitung.
Freiburg. Die drei anderen Herren im Abteil belächeln eine singende und theatralische Stimme im Nachbarsabteil, die irgendwas wohl Wichtiges zu sagen hat. Er lächelt mit und denkt an Wien, als er in illustrer Gesellschaft im Restaurant saß. Hier wurde auch was belächelt, nämlich seinen Schweizer Akzent. Der sei so niedlich und sympathisch. Warum wird immer nur unsere schweizerische Sprachfärbung belächelt und nicht die hessische oder tirolerische? Was haben wir denn, was die anderen nicht haben? Himmelnochmahl! Er erwiderte an dem besagten Wiener Abend, dass die Schweiz über 30 Viertausender hätte. Sofort war es still im Lokal. Alle schwiegen und sahen ihn an. Jetzt wurde es ihm klar: Die Österreicher haben keinen einzigen. Das saß. Der Ober hörte dies und verschwand im Büro. Als der Schock ob dieser alpinen Realität sich langsam verflüchtigte und erste anerkennende Wort gewechselt wurden, trat der Ober aus dem Büro heraus und an ihn heran und meinte: „Mein Herr, ich muss sie korrigieren, die Schweiz hat mehr als 30 Viertausender“ und hielt ihm ein aus dem Internet ausgedrucktes Blatt hin. Wie auch immer; er trägt nun dieses Blatt mit sich und zückt es, sobald wieder das nette Schweizerdeutsch belächelt werden sollte.
Die anderen Drei im Abteil schlafen alle, fast, der Däumchendreher dreht fleißig weiter. Er sinniert über die Schweiz mit ihren Viertausendern und staunt, dass die Eidgenossen noch nicht auf die Idee gekommen sind, sie zu vermieten oder gar zu verkaufen. Würde passen, in den politischen Zeitgeist, der alles und jedes in Geld verwertet. Die schweizerische Bundesbahn will mehr Geld und droht mit Sicherheitslücken, das öffentliche Fernsehen will mehr Werbung im Programm haben, einer der beiden Appenzeller Kantone lehnt ein Winterschutzgebiet für Tiere ab wegen den zahlenden Touristen und die Regierung in Bern beabsichtigt ein Streichprogramm bei fast allen Dienstleistungen. Das Alpenland zwischen Rhein und Ticino, Boden- und Genfersee scheint eine privatisierte Diktatur anzustreben, die börsentauglich werden soll. Alles was andere Länder gemacht haben, wird übernommen und kopiert, samt ihren Fehlern. Soll er sich ärgern oder wundern? Er denkt. Der Däumchendreher lässt den Daumen keine Ruh. Steuerzahler müssten umdenken und sich als Investoren des Landes, in dem sie leben, sehen. Dann läge die Frage auf der Hand, ob man ins falsche Land investiere. Er hat diese Idee irgendwo gelesen, weiß nicht mehr wo. Nur eines weiß er in diesem müden Abteil mit den drei schlafenden Männern, dass er Hunger hat und die Dame wohl alle Passagiere mit Leckereien bedient, nur ihn nicht.
Er wartet.
In Olten, in einer Altstadtkneipe fragte ihn der Verleger, ob er nicht ein Buch schreiben wolle. „Ich bin Journalist und kein Schriftsteller“, meinte er. „Auch gut“, sagte der Verleger und bestellte ein zweites Bier.
Offenburg: Nettes Städtchen, stolzes Hochhaus namens Burda. Und Sandwich mit Kaffee ist auch da. Däumchendreher und Bürstenschnitt reden amerikanisch, sie machen sich bereit, auf Mannheim. ABB? Ob sie Bivio kennen? Oder Fislisbach? Fislisbach bei Baden; ABB. Er denkt an einen Onkel, der sein Leben mit BBC verbrachte. Der Onkel sprach immer von „wir“, wenn von sich und seiner Brown Boveri & Co. die Rede war. In Rastatt macht der Zug keinen Rast, seine Gedanken tun es ihm gleich.
Einmal, beim Umsteigen in Olten, verlor Rolf zweimal sein ganzes Geld. Er löste am Automaten den Fahrschein und hielt das Portmonee falsch herum. Die vielen hellen Töne des Kleingeldes auf dem Boden ließen die Passanten stehen bleiben, als wüssten sie nicht, ob sie Hilfe anbieten sollen oder ob das dann falsch verstanden werden könnte. Rolf und er sammelten auf, eilend. Rolf dankte, er nickte beim Wiederauffüllen seines Geldbeutels. Sie gingen weiter, Rolf steckte Fahrschein ein und beabsichtigte dasselbe mit dem Portmonee zu tun, wenn er nicht vergessen hätte, es ordentlich zu schließen. Abermals segnete er klimpernd den Betonboden in der Oltener Bahnhofsunterführung. Die Leute blieben wieder stehen. Rolf und er sammelten erneut auf, der Anschlusszug wurde trotzdem erreicht. Er hatte nasse Augen, vor Lachen.
Karlsruhe. Däumchendreher und Bürstenschnitt steigen hier aus, nicht in Mannheim. Soviel zu seinen Englischkenntnissen. Also doch nicht ABB. Er denkt an einen neuen Englischkurs und an seinen letzten Aufenthalt in dieser Stadt. Er ließ sich durch eine literarische Ausstellung führen, sah sich im städtischen Museum eine Ausstellung über die Vandalen und ihren falschen Ruf an. Auf der Spitze des dazugehörenden Turms blickte er auf der einen Seite auf eine riesige Waldfläche mit vier herausragenden Fußballstadion-Beleuchtungsmasten und auf der anderen Seite auf den Schlosspark mit Stadt. Eine junge Frau und ebenso ein junger Mann störten die Aussichtsruhe. Der Bursche wollte es romantisch, sie fror. Er ließ die beiden allein.
Vor einer Buchhandlung lagen Karlsruhe-Krimis in einer Art Wühlkorb. Er dachte darüber nach, ob er auch einen Karlsruhe-Krimi schreiben soll und fragte sich, wie viele Einwohner die Stadt zähle.
Der Pullover döst vor sich hin und verarbeitet wohl die Fakten von seiner Bild-Zeitung. Jetzt nimmt ein jüngerer Mann in kariertem Hemd und blauen Jeans auf seiner Seite Platz, bei der Abteilstür. Das Mobiltelefon legt er auf den Tisch, die Jacke auf den Nachbarsitz und klappt den Laptop auf. Man spricht ja auch vom Klapprechner oder Faltcomputer. Der Zug gewinnt wieder an Fahrt und der Karierte tippt, sieht nach Geschäftsbericht aus oder etwas in der Art.
Tür rumpelt auf und ein hochgewachsener Bord-Restaurant-Kellner entsorgt Tassen und Teller. Mit „Dank“ rumpelt die Türe wieder zu.
Er sitzt. Denkstau. Gibt es das? Analog zu Schreibstau? In einer Klinik in Brunnen am Vierwaldstättersee war er vor langer Zeit zu einer Untersuchung. Das ging den ganzen Tag hindurch. Eine Assistentin bat ihn damals, in einem Zimmer Platz zu nehmen. Er befolgte den Wunsch brav und suchte nach Zeitschriften oder nach seiner Mappe mit dem Buch. Sie schüttelte den Kopf: „Verzeihung, aber Sie dürfen nichts mitnehmen, sondern Sie müssen ohne Ablenkung genau eine Stunde im Zimmer sitzen.“ Das gehöre zur Untersuchung, eine Stunde sitzen, ohne zu lesen, schreiben, hören oder gar fernzusehen. Da saß er also, im Raum ohne Aussicht. Was soll er jetzt denken? An seine Kindheit, seine Liebe, seine Zukunft, seine Karriere, seine Verwandten und Freunde? Über das Leben, über Gott über das All mit seinen schwarzen Löchern? Er schloss die Augen und flog über den Vierwaldstättersee, am Ufer entlang auf Flüelen zu. Über dem Ort blieb er ca. 200 Meter in der Höhe stehen, wendete und flog knapp über dem Wasser Richtung Luzern. Er überholte ein Passagierschiff rechts und diverse Segelschiffe links. Er sah die Stadt, die Kirchspitzen und Brücken, hielt Kurs auf sie zu. Kurz vor dem Ende des Sees und Beginn der Altstadt schwenkte er um und entschied sich für den Direktflug nach Bivio. Über St. Moritz ging die Tür auf und die Spital-Assistenz bat ihn, mitzukommen, die Stunde sei um. „Hätte er doch in Samedan landen sollen“, dachte er und stand auf.
Mannheim. Der Pullover verlässt das Abteil, um sich die Beine hin und her zu vertreten. Der Laptoptipper steigt aus. Die Deutsche Bahn teilt mit, dass in Frankfurt umzusteigen sei. Die Türe rumpelt auf und ein Kellner überreicht eine süße Aufmerksamkeit „Creation Marzipan“ von Mövenpick.
Frankfurt. „Wohin damit?“, fragt sich die kleine dicke Frau und weiß nicht, wo sie ihre Sandwichverpackung einwerfen soll, auf dem Bahnsteig vor dem Abfalleimer. Er wartet und sieht ihr zu. Sie kapituliert und wirft alles in die Öffnung „Restmüll“.
Mit José speiste er mal in einem Chinesischen Restaurant, hier in Frankfurt, gleich bei der Alten Oper. Ziemlich angeberisch ließ er das Personal wissen, dass er es mit Essstäbchen anpacke. Resultat: Drei Chinesen kauerten auf dem Boden und suchten die einzelnen Reiskörner zusammen, während José mit einer Gabel verlegen im Restreis stocherte.
Der Zug fährt auf Gleis 6 ein und ebenso verlegen teilt eine DB-Angestellte mit, dass dem Zug Waggons fehlen. Er steigt ein und ist auf alles gefasst. Billigflüge nach Mallorca im Hochsommer lassen sich gut vergleichen mit dem Stimmungsbild in diesem ICE von Frankfurt nach Leipzig 1. Klasse. Durch die durch eine „technische Panne“ bedingte Halbierung des Platzangebots stehen sich die Fahrgäste gegenseitig auf den Füßen, zeitgleich mit einer Verbrüderung gegen die Deutsche Bahn, die mittlerweile alles routiniert wegsteckt. Er wartet ab, sieht einen reservierten Platz nach Weimar und setzt sich. Eine ältere Dame sitzt neben ihm, am Fenster. Packt Imbiss aus, schüttelt ob diesem Geschiebe und Gedränge den Kopf. „Die hätten doch alte Waggons anhängen können. Lieber alt sitzen als modern stehen“, meint die Reisende nach Leipzig. Sie lebte mal in Weil am Rhein und ist schon lange Rentnerin und jetzt trifft sie sich mit ein paar Freundinnen aus Göttingen an der Buchmesse. Er nickt und dreht am Flaschenverschluss einer Cola.
Hinter ihnen sitzt ein Ehepaar, das so laut und aufgeregt alles kommentiert, als säße es zum ersten Mal in einem Flugzeug. Vielleicht applaudiert es auch, wenn der Zug im Hauptbahnhof Leipzig einfährt. Die Lage beruhigt sich, erstaunlich viele Reisende finden doch noch Platz, ein alter Herr wankt und taumelt vorbei und die Dame neigt sich zu ihm und sagt: „War das nicht Martin Walser?“
Er sieht dem alten Mann nach: „Kann sein.“
Fulda. Sie liest die Buchmessebeilage der Zeit und er schweigt und denkt an die Silvesternacht auf einem Schiff mitten auf dem Bodensee. Auf Einladung durfte er beim Kapitän auf der Brücke stehen, mit ihm aufs neue Jahr anstoßen und die Wette verlieren, weil er den falschen Wohnort von Martin Walser sagte. Er denkt nach, aber weiß es heute auch nicht mehr, irgendwo am Bodensee. Er will die Dame fragen, aber sie löst nun in einem anderen Blatt ein Kreuzworträtsel. Nicht stören, denkt er und fährt wortlos gen Osten.
Gotha. „Steigen Sie aus?“
„Ja.“
„Dann wird dieser Platz frei?“
„Richtig.“
„Danke.“
Stimmung kommt auf. Eine automatische Glastüre öffnet und schließt ohne Unterbruch. Hydraulikbegleitgeräusche halten diejenigen, die mit dem Rücken zur Türe sitzen, akustisch auf dem Laufenden. Spott und Witz erntet das endlos bewegende Glas, respektive die Techniker, die sich Schnickschnack ausdenken, den keiner braucht oder ihn vielleicht schätzen würde bei einer programmgemäßen Funktionalität. Er lehnt sich zurück. Ihm fallen die viele Bildschirme auf, an den Rückenlehnen. Kein einziger ist an, kein Bildschirm flimmert. Die Menschen schlafen und lesen. Sie wollen anscheinend kein Fernsehen außer einer Fernsicht beim Fahren. Nebst jedem Sesselbildschirm leuchtet ein Standby-Lämpchen, als sei es das Ewige Licht. Er denkt sich das seine. Technik für nichts, vom Stromverbrauch der Standby-Leuchte mal abgesehen. Na, die privatisierten Elektrizitätswerke wollen ja auch verkaufen und verdienen, Energiesparen war früher mal ein Thema.
Ein Mann erhebt sich vom Sitzplatz, zieht sich sein Sakko über, legt das Buch auf den Sessel und verschwindet wohl ins Bordrestaurant. Wieder versucht er das daliegende Buch zu erkennen, kann aber nur feststellen, dass es vom Luchterhand Verlag ist. Der Mann legte das Buch verkehrt herum auf den Sitz, also mit dem Cover zum Sitzleder. Warum tun das alle?
Erfurt. Ihm kommt das kleine Dorf am Genfersee in den Sinn, Le Bouveret. „Bellevue“ hieß das Hotel mit schöner Aussicht auf das Gewässer, in der Tat. Aber warum zupft ihm sein Gehirn jetzt gerade dieses Haus aus dem Archiv? Es war schlimm. Nicht das Dorf mit seinem Bootshafen, das Hotel! Außer man schätzt einen unfrisierten Chef, der mit unten offenem Kakihemd und versteinerter Miene den Kaffee bringt oder dem es völlig gleichgültig ist, wenn der Gast einen freien Tisch sucht. Auf dem Frühstückstisch lagen immer die gleichen flachen Billigschinkenscheiben neben der angebrauchten Erdbeerkonfitüre. Die Zimmerdusche stank nach Katzenmist, unter dem Schreibtisch hingen Spinnweben als müssten sich die Wunder der Natur inhouse entfalten. Über dem Doppelbett mit nur einer Nachttischlampe hing ein Bild mit einem Pudel auf einer Wiese. Das schlimmste Bild, das er je sah, allerdings im Bewusstsein, dass seine Qualitätsansprüche an die Kunst, subjektiv sind und nicht als Maßstab zu deren Bewertung dienen können.
Die Türe im Zug schiebt sich hin und her und er denkt an dieses Hotel am Ende des Genfersees.
Weimar. Das nächste Mal steigt er hier aus, jetzt nicht. Aber sein Gedächtnis steuert ihn an den Urnersee zurück, an die Tellplatte, in die so genannte Urschweiz. Er war schon viel Male da, Schiller noch nie.
Reisen bildet, ist anstrengend und nicht immer unkompliziert. Er lächelt und denkt an seinen Versuch, ein Zugsfahrschein von Zürich nach Leipzig zu kaufen:
„Ich muss Sie ins Reisezentrum schicken.“
„Aber ich möchte doch nur nach Leipzig und zurück.“
„Trotzdem.“
Wieder in der Warteschlange, aber jetzt im SBB Reisezentrum.
Zwei Schalter waren bedient. Ein verliebtes Paar ließ sich ausführlich die Aussichten von sonnigen Wochen auf Mallorca oder als Alternative Kanuferien in Schweden erklären. Er wartete. Am anderen Schalter wurde heftig in Prospekten geblättert, ob der Kunde in die Abruzzen oder auf die Karpaten will, konnte er hören. Er verlor die Geduld verließ das „Reisezentrum“.
Nach dem Hauptbahnhof Basel versuchte er es wieder, diesmal in Solothurn. „Ich möchte nach Leipzig und zurück.“
„Darf ich Sie ins Reisezentrum schicken?“
Er blickte durch die Glaswand ins dichtgedrängte Reisezentrum und sagte: „Nein. Ich will nur ein Zugs-Billette.“
Ernst schaute ihm die Dame durch die rahmenlose Brille an. Er gab erneut auf und ging. Doch da sah er einen Herrn am Wechselgeld-Schalter. Allein und Topfpflanzen gießend.
„Darf ich bei Ihnen ausnahmsweise einen Fahrschein kaufen?“
„Aber klar doch“, lächelte er.
Nach seinem Wunsch stand der Schaltermann auf und holte einen Zettel. Auf diesen schrieb er eine Telefonnummer und erklärte: „Das ist die Nummer des Reisezentrums, die machen das gerne für Sie.“
Beim Verlassen des Gebäudes staunte er, wie stabil die Türen sind!
Noch ein Tag bis Leipzig. Bahnhof Zürich-Altstetten. In versucht aufgeräumter Stimmung marschierte er auf den Schalter zu und sagte: „Guten Morgen, junge Frau! Ich habe hier aus dem Internet einen Zug ausgedruckt und möchte für diesen ein Ticket.“
Sie grüßte, warf einen Blick auf die Uhr und rief zu einer Kollegin am anderen Schalter. Dann sah sie ihn an und sagte: „Ausnahmsweise.“ Er zeigte sich erfreut, Sie erklärte: „Das Reisezentrum hat erst in einer halben Stunde geöffnet.“
Nach Leipzig eine Fahrt zu buchen, gleicht beinahe einem Abenteuer-Trip durch Uruguay. Dafür konnte er in einem kleinen Hotel im Kanton Wallis vier arabische TV-Kanäle anzappen. Schöne globale Welt. Er bangt auf die nächste Zugsfahrt nach Hamburg …
Aber, so denkt er, das Schöne liegt auch in der Nähe und erinnert sich an einen Ausflug am oberen Zürichsee zwischen Rapperswil und Schmerikon.
Die Felder waren noch weiß. Leute blieben stehen und suchten mit den Ferngläsern die optische Weite. Da standen sie. Eine Schar Brachvögel. Mit ihren Stelzenbeinen stolzierten sie über den restlichen Schnee und mit dem langen runden Schnabel zerrten sie widerspenstige Würmer aus dem Boden. Der Anblick war beeindruckend, auch für ein junges Ehepaar mit einem Kleinkind im Rucksack. „Was sind denn das für Vögel?“ „Brachvögel?“ „Darf ich mal Ihren Feldstecher benutzen?“ So wanderte das Glas von einer Hand in die andere und das eine Wort ergab das andere. Man staunte und fachsimpelte gemeinsam, der Spaziergang wurde fortgesetzt, plaudernd und schwatzend. Das junge Paar stellte sich vor, er sich auch. Es stellte sich heraus, dass das Wanderziel dasselbe war, so ging es gemeinsam weiter. Ein Rastplatz am See verleitete zum Sitzen, Knabbern und Weiterreden. Aus dem Smalltalk zu Beginn wurde eine Freundschaft für einen Nachmittag. Am Ziel trennte man sich, er bestieg den Zug nach Zürich zurück. Man schüttelte die Hände und küsste die Wangen und wünschte das Beste von Herzen. Er hat weder ihre Adressen noch Informationen über den Arbeitsplatz, aber es war eine Begegnung, die er so noch nie erlebt hatte und heute denkt er an sie, kurz vor Leipzig.
Unruhe im Abteil. Leipzig wird angesagt. Er säße jetzt gerne noch länger da, einfach so. Dresden. Er wird sentimental, da war er schon vor und nach der Wende. Ob die Gastgeber von damals noch leben, weiß er nicht.
Er konzentriert sich auf Leipzig, auf die Termine, auf die Messe.
Aber im Moment, wenn er mit sich ehrlich sein will, würde er gerne in Bivio sein. Da liegt zwar noch Schnee, aber zum Glück von gestern.
Urs Heinz Aerni