von: Simone Klein
30. Juni 2017
© Edition 8
Mutterwerden war schon immer leichter als Muttersein. Diese Erfahrung macht auch Sophies Mutter Lilli außerhalb postmoderner Erziehungsmodelle. Mit 26 brachte sie ihre Tochter zur Welt und drei Jahre später verließ sie ihr Mann, so dass das Kind im Kreise seiner Großeltern und vieler „Onkel“ Aufwuchs. Schauplatz ist Seefeld, ein gutbürgerliches Viertel in Zürich. Die mittlerweile 60-jährige Sophie blickt auf ihre Kindheit in den fünfziger Jahren zurück, als das Aufwachsen ohne Vater in der Schweiz alles andere als selbstverständlich war. In ihrem ehemaligen Umfeld sucht sie nach Spuren des Vaters. Ein Foto und ein Necessaire sind die einzigen Andenken.
Im Gegensatz zur Mutter musste Sophie während ihrer Kindheit materiell nichts entbehren. In der Wohnung der Eltern ihres abwesenden Vaters lebte sie nach den Traditionen des französischen Bürgertums. Konventionen bestimmten ihr Leben und überdeckten, was nicht erwähnt werden durfte. So legte man Wert darauf, bei Tisch ausschließlich Französisch zu sprechen, während über das Verschwinden des Vaters kein Wort verloren wurde. Über die Rolle der „Onkel“, die regelmäßig in der Wohnung verkehrten, jedoch für Sophie nie zu Ersatzvätern wurden, ließ man sie jahrelang im Dunkeln.
Zu einer emotionalen Annäherung zwischen Mutter und Tochter kommt es erst, als Sophie, derweil in Rom ansässig, nach Zürich zurückkehrt, um den Umzug der Mutter in ein Pflegeheim zu organisieren. Verbunden mit einer Sauerstoffflasche und körperlich entkräftet fehlt der Mutter die Kraft, um der Wahrheit dauerhaft zu entfließen. Wird sie der Tochter endlich einen Blick hinter die Fassade gewähren?
In ihrem neuesten Roman „Alles war“ präsentiert die routinierte Autorin Esther Spinner außergewöhnliche Facetten eines Mutter-Tochter-Konflikts. Die Suche nach der Wahrheit über den Vater und der Unmut über das beharrliche Schweigen der Mutter lassen ihre Protagonistin Sophie übersehen, dass sie das Aufrechterhalten der Fassade klassisch von der Mutter übernommen hat. Ganz individuell bewahren beide ihren Schein, die Mutter scheinbar konventionell-bürgerlich, die Tochter eher ungeschminkt-alternativ. Erst zum Lebensende der Mutter realisiert Sophie ihre eigenen verdrängten Gefühle: „Ich traure über das Leben, das vorbei ist, über das Leben, das noch vor mir liegt, über alles, was sich niemals erfüllen wird […] Alles verpasst, denke ich, nirgendwo hingekommen. Keine große Liebe, keine richtige, wichtige Übersetzerin, nicht Schweizerin, nicht Römerin, keine gute Tochter und erst recht keine Mutter.“
Esther Spinner ist eine wunderbare Familiensaga gelungen. Durch ihren offenen und wahrhaftigen Stil lässt sie ihre Leser in ein Seefeld der fünfziger Jahre eintauchen, in dem man damals wie heute auf der Suche war. Das Milieu mit seinen vergilbt anmutenden Traditionen lebt auf, sobald eine der Figuren die Grenzen der Konventionen verlässt. Mit viel Liebe zu sprachlichen und bildhaften Details stellt die Autorin durch ihre Protagonistin die Frage in den Raum, wieviel Wahrheit ein Mensch zu erkennen bereit ist – ganz den gängigen Selbsterkenntnisprozeduren zum Trotz.
Simone Klein
Bibliografie: Spinner, Esther: Alles war. Ein Roman aus der edition 8. Zürich: edition 8, 2017. ISBN: 978-3-85990-302-9.