von: Werner Wildhaber
2. November 2022
© Hase- und Igelverlag
Rückkehr. Die Augenlider zucken, es ist noch dunkel. Ich bleibe noch kurz liegen und lausche reglos. Ich kann sie schon hören, bin spät dran! Lächelnd strecke ich mich und schwinge mich aus dem warmen Bett. Im Raum: ein Fenster auf jeder Seite, ein kleiner Holzofen, zwei Stühle, ein Tisch, eine Kerze, ein Krug, ein Brot, ein Stift, Papier, ein Buch. Und an der Wand bei der Eingangstüre, neben den Kleidern, da hängt es, mein Amselkleid! Schwarz hebt es sich vom dunklen Raum ab. Behutsam nehme ich es vom Haken, lege es um meinen nackten Körper und knöpfe es zu. Ich spüre das angenehme Gewicht, die Federn reichen fast bis zum Boden. Vorsichtig ziehe ich mir die Federkapuze über den Kopf. Ich öffne die Türe. Türkisblauschwarzer Sternenhimmel, vielstimmiger Gesang. Morgenfrieden. Mit einem warmen Herzen eile ich durch den Garten, springe auf einer Hand abgestützt über den Holzzaun und renne über die taunasse Wiese dem Wald entgegen. Erfrischend kühle Füße, der Körper warm vom Federkleid. Ein Reh hebt aufgeschreckt den Kopf, bleibt stehen. Jetzt dunkler Waldboden. Ich kenne den Weg, alles ist mir vertraut. Da steht er, mächtig, mit weit ausladenden Ästen. Ich küsse seine raue, duftende Haut und klettere empor, immer höher in die Krone. Mein Ast. Rings um mich herrlichste Gesänge wie bunte Schleifen in der Morgenluft. Vor mir das Dach des dichten Waldes. Hinter mir sich lichtende Bäume, Wiesen, das Häuschen mit dem Garten. Der Himmel spiegelt sich violett im Bach. Morgennebelschwaden. Ein leichter Wind weht in mein Gesicht, einige Federn heben sich. Flügelschlagen neben mir. Bescheiden schwarzblau schimmernd schaut sie mich aus weisen, goldumrandeten Augen an und lässt dann ihre wundersamen Melodien erklingen. Erhebung. Ich stimme ein in den Gesang, mein Loblied an das unendlich Gute, das durch und durch Heile, das schwindelerregend Mächtige, das ewig Anziehende. Rötlichgelbes Licht, erlöschende Sterne. Tausendstimmiger Chor. Ich werde mit euch singen bis Er kommt, der Gesandte, der Große Sänger mit dem Neuen Lied! Leuchtend goldene Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht, ich blinzle. Die innere Sonne lodert. Glückseligkeit und süßer Sehnsuchtsschmerz. Auf meinem Amselkleid und in den Baumkronen funkeln Tautropfen. Tief atme ich mit geschlossenen Augen die Düfte der erwachenden Lebensfülle. Dankbarkeit. Ein neuer Tag auf einem Baum, irgendwo im unendlichen Raum, vom Urklang getragen. Mein Freund fliegt. Ich steige zur Erde. Ich habe zu tun.
Werner Wildhaber