von: Urs Heinz Aerni
18. September 2018
© Pressebild Samuel Zünd
Urs Heinz Aerni: Irgendwo las ich, dass Sie schon immer eine Schwäche hätten für „gehobene Unterhaltungsmusik“ und Evergreens. Was haben diese Schlager, was der Pop, Rock oder der Jazz nicht haben?
Samuel Zünd: Das besondere am Schlager aus den 20er und frühen 30er Jahren ist die Qualität der Texte; die Ironie und Zweideutigkeit, manchmal sogar das Politische. Das fehlt dem heutigen Schlager vollständig, da geht es nur noch um das rein Persönliche: Liebe, Treue, Sehnsucht. Damals war der Schlager eine Art von ironischer Auseinandersetzung mit der Alltagswelt, der Gesellschaft und dem Zeitgeist. Wie frei damit umgegangen war ist schon erstaunlich.
Aerni: Gibt es heute eigentlich neue Songs und Schlager mit Texten, die so witzig sind wie damals?
Zünd: Selten, aber es gibt sie ab und zu: ich danke da an Max Raabes Neukompositionen im Stile der 30er Jahre: „Kein Schwein ruft mich an“ oder einige Lieder von Udo Jürgens – zum Beispiel „Aber bitte mit Sahne“. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Schlager von damals eher hin zum Kabarettsong verlagert, denken wir nur an Georg Kreislers „Tauben vergiften im Park“.
Aerni: Sie traten schon zusammen mit Hazy Osterwald, Pepe Lienhard und der Kammerphilharmonie Graubünden auf. Wie erleben Sie die Reaktionen des Publikums? Funktioniert die Ironie der Texte heute genauso oder ist es doch mehr Nostalgie-Schwärmerei?
Zünd: Selbstverständlich leben wir in einer anderen Zeit, die scheinbar keine Tabus mehr kennt. Da wird diese Art des Schlagers schnell in die Ecke des rein Nostalgischen geschoben. Vielleicht wird dieser Umstand durch unsere szenische und stilistische Inszenierung noch etwas verstärkt. Trotzdem funktioniert die Ironie von damals immer noch bestens. So gilt beispielsweise der Inhalt des heute bald sechzig Jahre alten Hazy Osterwald-Hits „Konjunktur Cha Cha“ immer noch – und wird vom Publikum voll verstanden.
Aerni: Kommt beim Singen auch mal die Lust auf, in den 20er Jahren leben zu wollen? Und wenn ja, wo am liebsten?
Zünd: Die Lust kommt immer wieder mal auf. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass die 20er Jahre eigentlich eine Periode einer einzigen großen Krise war: Armut, Arbeitslosigkeit, Börsenkrach, politische Instabilität, allerdings geprägt von einer gewissen Hoffnung, dass es irgendwann besser werden wird. Eine Hoffnung, die – wie wir alle wissen – ein jähes Ende fand und in einer noch viel größeren Katastrophe endete. Ganz stark war dies in Berlin zu erleben. Was sich dort in den relativ wenigen Jahren von 1925-1933 entwickelte und wieder verschwand können wir selbst heute in einer enorm schnelllebigen zeit kaum mehr nachvollziehen. Aufstieg und Fall einer riesigen Kabarettszene, Variètés, Revuen im großen Stil, der Wandel von Stumm- zum Tonfilm, das Aufkommen vom geradezu absolutistischen Starruhms.
Aerni: Haben Sie schon mal an das eigene Komponieren von Schlagern gedacht?
Zünd: Ach, natürlich habe ich es auch schon ab und zu versucht. Allerdings liegt mir das Texten nicht wirklich eher schon das Komponieren und Arrangieren. Letzteres pflege ich v.a. für meine bald 25-jährige a cappella-Band The Sam Singers
Samuel Zünd studierte in Amsterdam und an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Wichtige Impulse habe er von Dunja Veizovic, Mitbegründer des Vokalensembles Zürich. Liederabende und Konzerte führten ihn in die USA, Großbritannien, Deutschland, Österreich, Frankreich und andere Länder. Zudem ist Zünd Dozent an der Musikhochschule ZHdK und am Konservatorium Zürich.