von: Werner Wildhaber, Zizers (Schweiz)
3. Oktober 2022

Alles Plastik

Ein Gastbeitrag von Werner Wildhaber

© Ars Scribendi Verlag

 

Montagmorgen auf der kalten Baustelle. Kurz vor neun. Franz flucht: „Huärä Siäch!“ Eben ist ein Stück der Kunststoffabdeckung einer alten Steckdose, die er für den anschließenden Wandverputz demontieren wollte, abgebrochen. Mit dem Schraubenzieher abgerutscht. Er legt alles beiseite und geht zu seinem staubigen Rucksack. Punkt neun. Der Junior-Chef kommt mit einem schlaksigen Jungen und sagt: „Das ist der Franz. Er wird dir diese Woche viel Spannendes über den Gipserberuf berichten. Frag ihn nur richtig viel! Er ist seit über vierzig Jahren in unserem Betrieb und hat immens viel Erfahrung! Bald müssen wir ihn nicht mehr bezahlen und auf seinen Wissensschatz und sein wertvolles Mittun verzichten. Franz, das ist der Tobias. Viel Spaß, tschüss.“ Pfeifend verlässt er den Raum. Franz arbeitet am liebsten alleine und spricht meistens nicht viel. Er ist fortgeschritten Arbeitsmüde, besonders mühsam ist’s seit dem Sechzigsten. Umso unliebsamer ist ihm nun die aufgezwängte Betreuung des letzte Woche angekündigten Schnupperstiften. Zum hundertsten Mal in seiner Laufbahn hat Franz diesen Job gefasst, immer mit Widerstand. Diesmal eine ganze Woche lang! Mit einem plastikverpackten Sandwich und einem Apfel in den Händen, die Thermosflasche unter den Arm geklemmt, betrachtet er den Jüngling, der jetzt im Lichtkreis des Scheinwerfers steht. Zu weite Arbeitskutte, spindeldürr, ein paar Pickel auf dem Kinn. Franz schätzt ihn auf höchstens Zwölf. „So, du bist also Tobias und möchtest Gipser lernen“, brummt Franz den ersten Standardsatz, kommt sich vor wie ein einfallsloser Samichlaus und setzt sich auf einen verschlossenen Plastikeimer. Ein kaum hörbares Ja. Franz stellt die Flasche auf den staubigen Boden, das verpackte Sandwich legt er daneben. Er weist mit dem Apfel in der Hand und einer knappen Bewegung auf einen zweiten Eimer. Der Junge setzt sich steif. „Wiä alt bisch?“ Zweiter Standardsatz. Leise: „Füfzähni.“ Noch kein Stimmbruch, denkt Franz. „Hast du keinen Znüni dabei?“ „Nein, ich habe schon gefrühstückt.“ Franz beißt in seinen Apfel und kaut lustlos. Ein Stückchen fällt ihm beim Abbeißen auf den Boden. Tobias schaut ihm nach und dann ein bisschen im fast leeren Raum herum, um Interesse vorzutäuschen.

Aus einem entfernten DAB-Radio hört Franz gedämpft und leicht hallend einen aktuellen Popsong, der ihm schon seit längerem ein Dorn im Ohr ist und der ihn mindestens viermal täglich irgendwo auf der Baustelle nervt. Bei der Radiosenderwahl seiner jüngeren Mitarbeiter hatte er nichts mehr zu melden. ‘Mit einem Bein in der Pension, mit dem anderen im Sarg‘, scherzte kürzlich der Polier. Franz beißt erneut in seinen Apfel und sagt, nun mehr zu sich selber: „Alles huärä Plastik hützutags!“ Und dann an Tobias gewendet: „Hör dir mal diese schon hunderttausendfach gehörte, billig zusammengepappte Plastikmusik an! Sowas hört ihr heutzutage! Passt zu dieser Plastikwelt! Ja ihr seid halt von euren Müttern in eine Welt des Grauens gepresst worden. Und kaum an der frischen Luft und ein paarmal tief durchgeatmet, werdet ihr mit einem Handy ausgestattet noch als Kleinkind wieder reingepresst in die engen, dunklen und feuchten Gänge des Systemlabyrinths. Das war bei uns ähnlich, aber jetzt ist alles noch viel verreckter! Ja ihr Jungen habt‘s nicht einfach! Plasikbeziehungen und Geschlechtsverwirrungen, künstlich erzeugter Dauerdruck und selbsteingewilligte Freiheitsbeschränkungen, totale Überwachung und totale Verblödung, ausschweifende Ablenkungen, billige Manipulationen, Konsumzwang, Informationsüberlastung, Umweltabnutzung und weiß der Herrgott nicht was alles! Für vieles müsst ihr Jungen heute gewappnet sein! Sonst reißt‘s euch mit!“ Franz lehnt sich leicht vor. „Stimmt‘s odr stimmt‘s nid!?“ „Stimmt.“, sagt Tobias nach zwei Sekunden Bedenkzeit mit unsicherer Stimme. Der Apfel verschwindet im Mund und wird zermalmt. Den Stiel lässt er zwischen seine Füße fallen. Franz undeutlich: „Huärä Plastiköpfel! Sehen alle exakt gleich aus, gleiche Färbung, Größentoleranz drei Millimeter, Geschmack keiner und den Nährwert einer Zuckerwatte. Wir stopfen sowieso alle nur noch Plastik in uns rein. Und auch das Wasser hat einen komischen Plastikgeschmack, egal welches! … Findest du nicht?“ Tobias nickt mit halboffenem Mund. „Du bist jung“, fährt er fort, „du lebst in einer Welt voller Bomben. Atombomben, Witzbomben, Sexbomben, Tischbomben, Arschbomben.

Diese Zeiten sind für uns alle nicht einfach. Ich bin ein alter Sack“, sagt Franz nachdenklich und grübelt eine hängengebliebene Apfelhaut aus seinen Zähnen. Dann fährt er etwas lauter fort: „Und hör mir jetzt gut zu! Nimm dich in Acht vor den Plastikmedien mit ihren Plasikmoderatoren und ihren Plastiknachrichten von Plastikpolitikern mit Plasikfressen und was sie sich wieder so alles geleistet haben! Pass auf, junger Mann! Und ganz wichtig:“, er lehnt sich diesmal noch weiter vor, „nimm dich allgemein in Acht vor den Krawattenträgern! Die richten am meisten Scheißdreck an auf der Erde! Nebst den Kuttenträgern!“ Er sitzt nun wieder aufrecht. Tobias schluckt trocken. Aus seiner Arbeitsschlutte summt das Mitteilungssignal, er zuckt leicht zusammen. Er wagt nicht, sein Handy hervorzuholen. Es ist seine Mutter die nachfragt, ob er gut gestartet ist und ob‘s ihm gefällt bei seiner allerersten Schnupperlehre und gleichzeitig ankündigt, dass es am Abend sein Lieblingsessen gibt. „Ja wir stecken in einem verfluchten Sklavensystem, du und ich! Wir alle! Und du stößt jetzt gerade erst richtig die Türe dazu auf. Herzlich willkommen im Zirkus, junger Mann! Aber ja, wir sind jetzt nun mal hier, junger Mann! Kali-Yuga, das dunkle Zeitalter des allgemeinen Zerfalls!

Das Zeitalter der Muschiduftkerzen, der TikTok-Fingerbrech-Challenges, der Bioroboter-Staatschefs und der Plastikinfluencer, die bestgelaunt in zerfallenden Plastikferienparadiesen oder neben frischen, noch rauchenden Bombenkratern posieren. Und wir riechen dran, machen mit, schauen zu. Nichts ist uns mehr heilig, zu peinlich oder zu abartig. Wir haben unsere Unschuld verloren. Auch du schon!“ Und nach einer kurzen Pause etwas sentimental: „Vielleicht fängt uns schon bald wieder der Schwanzfortsatz an zu wachsen.“ Und wieder laut: „Sogar das Eidgenössische Schwingfest ist zu einer Plastikveranstaltung verkommen! Alles ä huärä Kitsch! Aber die, die’s sehen, gelten als Spinner. Findest du ich spinne?“ „Nein“, sagt Tobias etwas zu schnell. Franz, der keine andere Antwort erwartet hat, hebt sein Sandwich auf, packt es aus, zerknüllt die Plastikfolie und wirft sie mit einer lockeren Bewegung nach links weg, bevor er mit Appetit zubeißt. „Luägsch au Schwingä?“ mampft Franz, dem gerade nichts anderes einfällt. „Näi, nid so.“ „Heute wird alles im Leben künstlich verkompliziert, bis zum Brechreiz hochgeschaukelt und der größte Scheißdreck mit zum Bersten aufgeblasen Titten präsentiert und für unheimlich wichtig und unerlässlich erklärt!

Unser Leben ist überladen mit Verboten, Pflichten, Paragraphen. Nur weil wir Idioten unmündig geworden sind und das Zepter abgegeben haben und uns nicht mehr selbstständig überlebensfähig organisieren und friedlich miteinander leben können! Ein riesiges, unförmiges Plastikgebilde mit peitschenden und würgenden Gummischlauch-Tentakeln ist unser System! Aber auch nicht mehr, verdammt nochmal! Das hässliche Ding wird’s zerblasen und uns die Schläuche um die Ohren fliegen!“ Franz aufgebracht, Tobias erschrocken. Er hat sich auf dem Plastikeimer instinktiv leicht seitlich weg zur Türe hin gedreht. „‘Die sterbenden Gesellschaften häufen Gesetze an wie die Sterbenden Heilmittel‘“, zitiert Franz jetzt mit etwas gemäßigterem Ton die Worte eines Mannes, dessen Name ihm entfallen ist. Der nächste Bissen verringert die Größe des Schnitzelbrotes um ein weiteres Drittel. Er kaut und kaut und denkt. „Alles huärä Gugus, alles Plastik hützutags!“ sagt Franz wieder und betrachtet den Rest seines Sandwichs. Tobias würde am liebsten seine Mutter anrufen, dass sie ihn abholt. „Plasikgeld, Digitale Währung, E-Banking, Twint und all der Plastikscheiß!“ Er nimmt die Thermoskanne, schraubt den Deckel ab und füllt ihn mit dampfendem Kaffee. „Magsch au än Kaffi.“ Mit glasdünner Stimme: „Näi dankä, han käi durscht.“ Franz hätte ohnehin nicht gewusst, wo er einen zweiten Becher hätte auftreiben sollen. Er nimmt einen Schluck und ist erstaunt, wie redselig er heute ist. „Früher hat man noch Bier gesoffen auf der Baustelle. Das Endergebnis war auch nicht schlechter als heute.

Jetzt schütten sie Red Bull und solchen Plastikscheiß in sich rein. Und am Wochenende schlucken sie irgendwelche Plastikdrogen, tanzen mit Plastikmenschen zu Plastikmusik, machen Plastikbekanntschaften und sind erst gegen Mitte Woche wieder einigermaßen auf der Baustelle zu gebrauchen. So läuft’s heute! Weiber gibt’s auch fast keine echten mehr!“ Er wischt sich den Mund mit dem Handrücken und schaut wieder Tobias an. „Los zuä. Ich bin jetzt Vierundsechzig. Nächsten Sommer stecke ich dem Pensionskassenheini den Spachtel ins Nasenloch und sage: ’Usä mit minä Chölä, aber rassig!‘ Aber du, junger Mann! Du hast da noch so einiges, einiges vor dir!“ Franz schnaubt kurz wie ein Pferd. Tobias schaut mit großen Augen. Franz, mit fast freundlichem Ton das Thema abschließend: „Aber ich sage dir, alles wird bald anders sein! Und besser! Es muss ja! Wie auch immer! Rübe hoch! Kommt schon gut, junger Mann!“ Er sagt’s irgendwie auch zu seiner eigenen Erbauung und schiebt sich das letzte Stück des Schnitzelbrotes in den Mund. Pinkfarbene Sauce tropft auf die weiße, fleckige Arbeitshose. Franz kaut wieder lange und schaut Tobias dabei direkt an. Der sitzt bewegungslos auf dem Fertiggipseimer und starrt auf den fünflibergroßen Fleck. Franz holt ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der breiten Brusttasche seiner Latzhose, wischt sich Sauce von den Mundwinkeln, entfernt den Saucenfleck vom Oberschenkel, faltet das Taschentuch einmal um, steckt es wieder zurück und holt eine Schachtel Parisienne mit Feuerzeug heraus. Dann tritt kurz Ruhe ein, abgesehen vom leisen, dumpfen Beat des Radios. Franz raucht. Die Ellbogen auf den Knien abgestützt, den Blick starr in schrägem Winkel zum Boden gerichtet. „So! Pause fertig“, sagt er plötzlich, Tobias fährt zusammen.

Franz zerreibt den Stummel auf dem Boden und zur Sicherheit zusätzlich noch mit dem Absatz und nimmt den letzten Schluck lauwarmen Kaffee. Franz überlegt sich kurz, ob Kaffeetrinken auch kulturelle Aneignung ist. Egal, er steht auf. „Dann kannst du jetzt erst mal das Zeug da am Boden zusammenwischen“, sagt Franz und deutet mit dem Zeigefinger wahllos im Raum herum und dann auf den Besen an der Wand. Tobias: „Mier isch chli schlächt.“ Franz schaut ihn an. Tatsächlich ist der Junge noch blasser als zuvor und hat zusätzlich dunkle Schatten unter den Augen. Franz klopft ihm mit dem ersten, leichten Lächeln aufmunternd, etwas zu kraftvoll, zweimal auf die Schulter. „Ds Toi-WC isch bim Usgang rächts, bi dä Parkplätz. Chum gang hei! Äs langet, wenn morä Nohmittag oder am Mittwuch wider chunsch. Guäti Besserig.“ Tobias steht auf und sagt leise: „Adiä“. Mit hängenden Armen verlässt er zügig den Raum und greift dann nach seinem Handy. „Tschau“, ruft Franz über die Schulter, verstaut die Thermoskanne im Rucksack und begutachtet dann nochmal die beschädigte Kunststoffabdeckung. Nichts mehr zu machen, auch leimen geht nicht. Er muss irgendwo etwas Ähnliches auftreiben. Er wirft die Teile in eine Ecke und murmelt: „Plastikglump!“ Franz geht’s jetzt besser als zu Beginn des Tages.

 

Werner Wildhaber

 

Das Titelbild zeigt ein Buch, das dazu passen könnte.