von: Urs Heinz Aerni
6. April 2017

Aber

"Es ist gerade die Geistesverfassung des Durchschnittsmenschen, die der Ethik das grösste Rätsel aufgibt." Giorgio Agamben 

© Foto: uha

Wir können es nicht fassen, wir Künstler, Humanistinnen und Feministen. Wir, die wir doch auf der richtigen Seite stehen. Wir können es nicht fassen, dass sich Menschen an wichtigen Schaltstellen geistlos äussern, ungehobeltes Zeug verbreiten, heute dies, morgen das, und dass sie so viel Zulauf haben. Zum Beispiel Politiker, die in die Macht verliebt sind, die sich über Regeln des Anstands, der Menschenwürde, der Achtung vor Andersdenkenden und anders Lebenden plump hinwegsetzen, die sich über wissenschaftliche Erkenntnisse lustig machen und Dinge versprechen, die sie nie halten werden. Oder religiöse Führer, die die spirituellen Bedürfnisse der Menschen missbrauchen und Hass schüren statt Barmherzigkeit auszustrahlen. Die unterschiedlichsten Verführer und Vereinfacher eint, dass sie ein ungutes Spiel mit unserer Angst vor dem Sturz ins Nichts spielen, die berechtigte Sehnsucht nach emotionalem Zuhausesein missbrauchen und die unmündigen Seiten in uns erreichen wollen.

Aber sie faszinieren viele, und zwar nicht obwohl sie so sind, sondern weil sie so sind. Ihre Kraft und ihre Ausstrahlung haben sie gerade wegen ihrer angemassten Souveränität und Definitionsmacht, wegen ihrer Unkorrektheit und ihrem unumschränkten Willen zur Selbstherrlichkeit. Wie unspektakulär ist dagegen ein Politiker, der in echter Auseinandersetzung mit den Problemen um Lösungen ringt, oder ein religiöser Lehrer, der die Herzen der Menschen weiten will.

Was sich draussen abspielt, findet in gewisser Hinsicht auch in uns selber statt. In unserem inneren Parlament tummeln sich allerhand Figuren, die wir, wären es Kerle in der äusseren Wirklichkeit, als kriminell bezeichnen oder als psycho-pathisch pathologisieren würden. Was heisst das nun, dass diese Gestalten in uns, innerseelisch, in Träumen und Phantasien auftauchen? Es heisst, dass es nicht nur an den andern liegt, dass die Welt so ist, wie sie ist. Die Wahrheits-umdreher, Schlawiner und Angeber sind auch in mir und würden sich auch in meinem Leben gerne autokratisch durchsetzen. Aber die Firnis der Zivilisation, dieser zum Glück wirksame Schutzanstrich, verhindert in der Regel das Schlimmste.

Nach ein paar Gläsern Wein mit tagsüber politisch korrekten Freunden und Freundinnen kann jedoch die schattenhafte Gegenwahrheit schneller als erwartet zum Vorschein kommen, wie ich kürzlich erlebt habe. Plötzlich wechseln die Feiernden die Perspektive, und Zweifel an unsern Regulativen kommen auf, an unserem Verständnis von Gleichheit, an unseren Sexismus- und Rassismus-verdikten, an den Inklusions-und Toleranzkonzepten. Bewunderung für die Inkorrekten kommt auf. Die feucht durchfeierte Nacht widerlegt die Aufklärung. Aber es wird ja wieder Tag.

Aber wir sollten die Nacht nicht zu rasch wegreden. Das Dunkle imponiert. Sogar die Kunst lebt, noch wo sie sich dagegen sträubt, von gefährlichen Mächten. Welch wunderbare Musik ist entstanden dank religiösen Texten, die Gott als Zertrümmerer feiern. Sich die Hölle auszumalen ist allemal inspirierender als das Frohlocken im Himmel.

Bevor wir losziehen, um gegen die da draussen zu kämpfen, sollten wir nochmals durchs eigene Haus streifen, und zwar nicht nur durch das sonnendurchflutete Wohnzimmer. Es gibt in Nebenräumen und Untergeschossen Mitbewohner, die treiben es ziemlich bunt, sind übergriffig, politisch dumm, wahnsinnsanfällig. Und gerade die unterdrückten Untermieter möchten am liebsten zu Alleinherrschern werden. Es ist im Grunde erstaunlich, dass so viele Menschen einigermassen vernünftig sind (und eine Instanz in sich haben, die ihnen unter anderem abrät, sich als Opfer zu definieren, selbst wenn sie es sind.)

Damit wir verstehen lernen, warum umgekehrt viele andere auf die Arroganz und den dubiosen Charme trüber Machthaber und Prediger hereinfallen, müssen wir uns selber verstehen. Es ist zwar interessanter, bei andern Fehler zu finden. Aber wir müssen auch im eigenen Keller nachschauen. Mit den begrabenen Hunden ins Gespräch kommen. Das ist nicht so einfach, lässt sich kommunikationskosmetisch nicht lösen.

Seit über zweitausend Jahren fordern die Philosophen Selbsterkenntnis. Wer sich auf sie einlässt, den führt sie unter anderem zu einer schlichten Erkenntnis: Es ist unwahrscheinlich, dass ich besser bin als du. Zu dieser Einsicht kommen wir, wenn wir unsere eigenen Ungereimtheiten, kleinen Bösartigkeiten, Besserwis-sereien und Überheblichkeiten, die zunächst ja einigermassen harmlos sind, wenn wir also unsere eigenen halb verwirklichten, halb unterdrückten Lebens-bagatellen anschauen. Einfach mal anschauen. Ihre latente Monstrosität wahrnehmen.

Und dann unsern Moralismus aufgeben.

Wie? Muss ich denn nicht für das Gute kämpfen? Endlich mal konsequent werden? Ich bin überzeugt, dass Sokrates Recht hatte, als er auf die Grenzen unseres Wissens hingewiesen hat. Wissen, vor allem angebliches Wissen um das definitiv Gute, führt, wenn es gelebt wird, meistens ins Böse. Es nicht so genau zu wissen ermöglicht menschengemässe ethische Entscheidungen. Die innere Stimme von Sokrates, sein Daimonion, war keine zum Guten auffordernde Stimme: Über dem Logos, sogar über dem Willen der Götter wirkend, warnte sie lediglich vor einem Schritt, der vernünftig zu sein schien, aber es nicht war. Der Mehrheit des Volkes, das faustdicke Antworten will, und den Mächtigen gefiel das gar nicht. Sie verurteilten ihn zum Tode.

Dieses Aber ist das Problem. Beziehungsweise die Lösung. Inwiefern? Was heisst das für unsern Humanismus und Feminismus und alle andern progressiven Ismen?

Wenn wir dieses Aber verstanden haben, dürfen wir hinausgehen und für das Gute kämpfen.

Martin Kunz

Martin Kunz ist Künstler, Philosoph und Publizist in Zürich.